Vol 2 (2019), No 1: 14–47

DOI: 10.21248/jfml.2019.18

Gutachten und Kommentare abrufbar unter:

http://dp.jfml.org/2019/opr-perrin-irgendwie-
bin-ich-immer-am-schreiben/

“Irgendwie bin ich immer am Schreiben”

Vom Sinn transdisziplinärer Analysen der Textproduktion im Medienwandel

Daniel Perrin

Abstract

Transdisciplinary research is research not only on, but also for and, most of all, with practitioners. In the research framework of trans­disciplinarity, scholars and practitioners collaborate throughout re­search projects with the aim of mutual learning. This paper shows the value transdisciplinarity can add to media linguistics. It does so by investigating the digital literacy shift in journalism: the change, in the last two decades, from the predominance of a writing mode that we have termed focused writing to a mode we have called writing-by-the-way. Large corpora of writing process data have been gener­ated and analyzed with the multi-method approach of pro­gression analysis in order to combine analytical depth with breadth. On the object level of doing writing in journalism, results show that the general trend towards writing-by-the-way opens up new niches for focused writing. On a meta level of doing research, findings explain under what conditions transdisciplinarity allows for deeper insights into the medialinguistic object of investigation.

Keywords: transdisciplinary research, text production in journalism, progression analysis, digitization, writing-by-the-way

 

0 Einleitung

Was tun Journalisten genau, wenn sie schreiben? Warum tun sie es so? Und wie ändert sich journalistische Textproduktion mit fort­schreitender Digitalisierung? – Em­pirisch fundierte Antworten auf solche Fragen tragen dazu bei, medien­linguistische Theorie an den Schnittstellen von Sprach-, Medien- und Kommunikations­wissen­schaft zu präzisieren. Zugleich können sie der Praxis Grund­lagen lie­fern, das eigene Tun zu reflektieren und weiter zu ent­wickeln. Soll dabei das Wissen der ExpertInnen aus der Praxis syste­matisch in Forschungsprojekte mit eingebunden werden, bietet sich ein trans­disziplinärer Forschungsrahmen an. Einen solchen Rahmen spannt der vorliegende Beitrag auf.

Einleitend begründet der Beitrag den Einsatz von Trans­diszi­plinarität aus medienlinguistischer Perspektive (Teil 1). Der Er­klä­rung und Veranschaulichung von Trans­disziplinarität dient der For­schungsgegenstand kollaborative Textproduktion in Redaktio­nen. Dieser Gegenstand wird hier untersucht als Zusammenspiel von Prak­tiken, greifbar in Phasen skalierender situierter Aktivität in dy­namischen Kontexten (2). Zur Datengewinnung und -analyse wird der Mehrmethoden­ansatz der Progressionsanalyse genutzt. Er er­fasst soziale, materiale und mentale Aspekte kollaborativer Text­pro­duktion so, dass aus den Praktiken individueller Sprachteilhaber auf organisationale und gesellschaftliche Strukturen geschlossen wer­den kann (3).

Befunde zeigen einerseits eine großflächige Entwicklung journa­listischer Textproduktion in Richtung des beiläufigen, also ubiqui­tären und fragmentierten Schreibens in sozialen Medien und Daten­banken. Andererseits wird, am konkreten Beispiel der Journalistin MD, deutlich, dass sich neue Nischen öffnen für fokussiertes Schrei­ben (4). Das Fazit auf der Ebene des Forschungsgegenstands: Schrei­ben als Schlüsselkompetenz im Journalismus wird vielschichtiger. Das Fazit auf der Metaebene medienlinguistischer Wissens­erzeu­gung und -transformation: Transdisziplinäre Analysen ermöglichen eine empirisch basierte Weiter­entwicklung der Textproduktions­kompetenz im Berufs­feld Journalismus (5).

1 Forschungsrahmen und -frage: Transdisziplinär untersuchen, wie JournalistInnen wirklich schreiben

Was tun JournalistInnen wirklich, im Großen wie im Kleinen, wenn sie schreiben und damit beitragen zur Herstellung multi­modaler Kommunikationsangebote für den öffentlichen Diskurs? Für Ant­worten auf diese Frage (Teil 1.1) interessieren sich Theorie und Praxis (1.2) aus ihren je eigenen Blick­winkeln. Deshalb setzen Ant­worten, die über­zeugen können, Forschungsrahmen voraus, in de­nen das Wesentliche des Gegenstandes mehrperspektivisch fest­stellbar, erklärbar und begründbar wird (1.3).

1.1 Forschungsfrage

Die Forschungsfrage, was JournalistInnen wirklich tun, wenn sie schreiben, geht davon aus, dass solche Wirklichkeit grundsätzlich er­fassbar ist (vgl. Wright 2011). Wer die Frage an einem Ort stellt, wo sich Theorie und Praxis begegnen können, geht zudem davon aus, dass es aus beiden Blickwinkeln sinnvoll ist und zur Antwort auf die Forschungsfrage beiträgt, sich mit Wirk­lichkeit zu befassen. In wirk­lich schwingt aber auch eine Qualitätsvorstellung der Untersuchen­den mit, nämlich dass vorschnelle und unzulängliche Antworten nicht genügen würden. Bei so ver­standener Wirklichkeit reicht we­der ein oberflächlicher Blick von außen noch ein befangener Ein­druck von innen.

Der Nullartikel vor dem Plural JournalistInnen zeigt an, dass hier weder nur eine einzelne Person noch überhaupt alle (die Journa­listInnen) gemeint sind und dass deshalb darüber nachzudenken ist, erstens, wer untersucht wird und, zweitens, für wen die Antwort dann gelten soll. Eine zweite, hier eben­falls gemeinte Leseweise von Nullartikel und Plural lässt schließen auf das Schreiben von mehre­ren JournalistInnen zusammen, also auf Praktiken kollabora­tiver Textproduktion (z. B. Schindler/Wolfe 2014). Die Spannweite der Kollabora­tion kann reichen von Zweiergruppen an Schnitt­plätzen bis zu ganzen Medieninstitutionen und ihrem zeit­raum­übergrei­fenden Zusammenwirken bei dem, was an der Basis der Organisa­tion als Schreibprozess sichtbar wird.

Das Präsens, schreiben, könnte sich auf Tätigkeit in der Gegen­wart beziehen; hier gemeint ist aber eben auch das Zeitüber­grei­fende. Damit rücken inter­textuelle Ketten diachroner Kollaboration ins Blickfeld: Journalist­Innen arbeiten ja nicht nur zeitgleich ge­meinsam an ent­stehenden Beiträgen, sondern auch nacheinander, und zwar wieder im Kleinen wie im Großen, innerhalb von Institu­tions­grenzen und über diese Grenzen hinweg. Dies etwa, wenn Re­dakteur und Redaktionsleiterin nachein­ander einen Text editieren, der vorher in der nationalen Nach­richten­agentur aufbe­reitet wor­den ist, nachdem ihn eine Außenstelle dieser Agentur ver­fasst hat (vgl. Perrin 2015: 45 f.).

In der Rollenbezeichnung  JournalistInnen schließlich schwingen der synchrone und der diachrone Kontext journalistischer Praktiken mit. Synchron wirken JournalistInnen in organisationalen und ge­sellschaftlichen Rollen und erfüllen entsprechende Aufgaben, zu­sammen mit Rollen­trägerInnen wie Quellen, Fachleuten visueller Gestaltung, Medien­managern und MedienpolitikerInnen. Diachron geschieht dies unter sich ändernden Bedingungen, in sich ändernden Kontexten. Technologischer und politischer Wandel haben vor Au­gen geführt, wie sehr das Rollen-Spiel journalistischer Text­pro­duk­tion den Zeitströmungen unter­worfen ist – mit Folgen auch für die Praktiken des Schreibens (z. B.  Perrin/Schanne/Wyss 2010).

1.2 Fach: Medienlinguistik, Linguistik, Angewandte Linguistik

Hier gemeint ist also Schreiben in den vielschichtigen und dyna­mischen Umgebungen des Journalismus. Dieses Schreiben ist so zu rekonstruieren, dass das Wesentliche davon nachvollziehbar wird für alle Anspruchsgruppen der Wissenskonstruktion: für Wis­sen­schaftlerInnen interessierter Fachrichtungen, für Praktiker­Innen be­trof­fener und benach­barter Berufsfelder wie etwa Medien­poli­ti­kerInnen, aber auch für NutzerInnen im öffentlichen Diskurs. Zu er­warten ist, dass sowohl die ExpertInnen aus wissenschaft­lichen Fä­chern als auch diejenigen aus der beruflichen Praxis interessante Be­stände an Vorwissen, aber auch Fragen zum Gegenstand einzu­bringen haben, auf die sie sich bedeutsame Antworten erhoffen.

So fragte sich zum Beispiel die Journalistin MD, „warum es plötz­lich nicht läuft“ –  warum ihr viele Schreibprozesse leicht von der Hand gingen, andere dagegen nicht. „Irgendwie“ sei sie dann „immer am Schreiben“, werde nie fertig und bleibe doch unzufrieden mit dem Ergebnis. Mit dieser Frage ist sie nicht allein. Wer beruflich schreibt, kennt Schreibfluss und Schreibblockade und ist daran in­ter­essiert, das erste zu verstärken und das zweite zu vermeiden. Aus theoretischem Blickwinkel ist das Problem deshalb interes­sant, weil es nach Theorien mittlerer Reichweite (vgl. Pawson/Tilley 1997, s. u., Teil 1.3) ruft, die erklären, was für wen unter welchen Bedin­gun­gen funktioniert, und die deshalb beitragen zur Situierung von Praktiken, hier des schrift­lichen Sprachgebrauchs.

Zu den angesprochenen wissenschaftlichen Fächern gehören Semiotik und Linguistik. In der gewählten Perspek­tive steht die Lin­guistik im Vordergrund; es geht in erster Linie um die Verfer­tigung von Angeboten verbaler Sprache, dies allerdings im Kontext von Zeichen anderer Systeme, vor allem von Klängen und Bildern im glei­chen Kommunikations­angebot. Zudem sieht Linguistik die Ver­bal­sprache spätestens seit der visuellen Wende (z. B. Sachs-Hom­bach 2003) grund­sätzlich als medial eingebun­den; mündliche und schrift­­liche Verbalsprache sind nicht realisierbar ohne auditive und visuelle Anteile wie Stimm­klang und Typographie, die über Bedeu­tung und Sinn der abstrakten Sprachzeichen hinaus­reichen.

Der Gegenstand hier ist aber enger zu fassen: Es geht um Sprach­gebrauch als Schreiben in einem bestimmten Berufs­feld, dem Jour­nalismus. Mit diesem Feld befassen sich wissen­schaftliche Fächer aus einander ergänzenden thematischen Interessen: Politologie, So­zio­logie und Kommunikations­wissenschaft etwa stellen scharf auf politische und gesellschaftliche Funktionen des Journalismus, Me­dien­wissenschaft auf die Mediengebundenheit journalis­tischer Tä­tig­keit. Wo Kommunikations-, Medien-, und Sprachwissen­schaft einander überlappen, hat sich in den letzten Jahrzehnten Medien­lin­guistik herausgebildet, mit eigenem Gegenstand und ihm ange­mes­senen Methoden (vgl. Perrin 2015: 30–36).

Nun gehören Schreiben und Textproduktion als Prozess nicht zu den häufigsten Untersuchungsobjekten der Medien­linguistik. Im Zen­trum üblicher medienlinguisti­scher Arbeit stehen Produkte. Sie werden dann oft in Bezug gesetzt zu Kontexten und gedeutet als Spuren von Prozessen und Auslöser für Prozesse. Kritische Diskurs­analyse etwa geht gern von Produkten aus und schließt daraus auf Handlungs­absichten und Folgen, also auf Prozesse. Hier gemeint mit Schreiben ist aber tatsächlich der Prozess – der als das, als Prozess, untersucht wird. Dies bedingt ein Vorgehen, das hinausreicht über das übliche Methoden-Repertoire von Linguistik und Medien­lin­guistik und auch der anderen oben genannten Fächer.

Schreiben als Prozess steht im Zentrum des Interesses der Text­produktions­forschung. Dieses Forschungsfeld hat sich entwickelt im Zusammenspiel von Disziplinen wie Rhetorik, Sprachpsychologie, Schreibdidaktik und Angewandter Linguistik. In der Schreib­for­schung (später, weiter gefasst, in der Textproduktions­forschung) wur­den zuerst Schreib­prozesse im Labor untersucht, später im Feld. Schreiben hat sich dabei, wie Sprachgebrauch überhaupt, immer stärker als Schnittstelle zu kognitiven und sozialen Strukturen und Prozessen erwiesen: An der Tätigkeit des Schreibens in der Redak­tion etwa zeigt sich, einfach gesagt, wie JournalistInnen denken und wie die Gemeinschaften, in denen sie wirken, funktionieren (vgl. Perrin 2015: 40).

Ein solcher Ansatz schließlich führt zur Angewandten Linguistik, die sich heute versteht als ein Feld von Forschung und Praxis, in dem praktische Probleme von Kommunikation und Sprachgebrauch er­kan­nt, untersucht und gelöst werden.[1] Immer stärker geschieht dies transdis­ziplinär, also in Forschungsprojekten, in denen Wissen­schaft­­ler­Innen mehrerer akademischer Disziplinen systematisch zu­sammenarbeiten mit PraktikerInnen aus den untersuchten Be­rufs­feldern, die verstanden werden als ExpertInnen ihres Fachs. Ziel ist, ein ganzes Forschungs­projekt hindurch zusam­menzu­arbeiten an der Lösung gesellschaftlich bedeut­samer und komplexer Probleme – und so voneinander zu lernen (vgl. Perrin/Kramsch 2018).

Um einen solchen Gegenstand, um solche Projekte, entwickelt in einem solchen Forschungsverständnis, geht es also hier: journa­lis­tisches Schreiben, zu untersuchen als Prozess des Sprachgebrauchs in vielschichtigen, zum Beispiel semiotischen, organisatorischen, sozialen und historischen Kontexten, mit einem Wissenschafts­ver­ständnis, das der Sprache in Gebrauch den Wert einer Messober­fläche für sonst schwer zugängliche mentale und soziale Strukturen und Prozesse zuschreibt und das davon ausgeht, dass Experten­wis­sen aus der Praxis zur Bearbeitung theoretisch und praktisch be­deut­samer Fragestellungen Wesentliches beizutragen hat und des­halb mit einzubeziehen ist.

1.3 Forschungsrahmen

Ansätze empirischer Erforschung natürlicher Schreib­praktiken im oben dargestellten Sinn lassen sich verorten in einem Gefüge von Forschungsrahmen, in denen die Forschen­den ethnographisch vor­gehen, um die Wirklichkeit mit zu erfassen, die für die Beforschten selbst gilt. Ethno­graphie fragt nach Praktiken zur Herstellung einer als sinnvoll erlebten Ordnung des Alltags – oder eben der Arbeits­welt, etwa der kollaborativen Textproduktion in journalistischen Redaktionen. So arbeitet Ethnographie die Innenperspek­tive einer untersuchten Gemeinschaft auf deren eigene Praktiken heraus und setzt diese in Beziehung zu Außen­perspektiven auf die gleichen Prak­tiken und Kontexte (z. B. M. Agar 2011).

Allerdings neigt Ethnographie, wenn sie den alleinigen For­schungs­rahmen darstellt, zur Verhaftung in Fallstudien und Mikro­perspektiven (z. B. Tavory/Timmermans 2009). Zudem klärt sie das Verhältnis von Forschung und beforschter Praxis nur ansatzweise, ebenso das Zusammen­spiel von Routine und Emergenz in den un­ter­suchten Praktiken. Der letzte Punkt ist entscheidend, wenn Wan­del untersucht werden soll, also zum Beispiel, wie und warum in der Praxis Initiativen entstehen, Routinen aufzubrechen zugun­sten neu­er, emergenter Lösungen. Text­produktions­forschung gewinnt also, wenn sie Ethnographie verbindet mit weiteren Forschungs­rahmen – was in vielen ethnogra­phischen Projekten implizit geschieht (Tab. 1):

 

 

EG

Ethnography

GT

Grounded Theory

TDA

Transdiscipli-nary Action Research

RST

Realist Social Theory

DST

Dynamic
Systems Theory

Focus

Case study

+
Generalization


+
Real-world problem



+
Social relevance




+
Dynamics

Outcome

Understan­ding partici­pants’ per­spectives

Building theories by coding data

Solving the problem in a sustainable way

Contextuali­z-ing situated activity in a real world

Explai­ning emer­gence

Tab. 1: Erweiterte Ethnographie als Rahmen medienlinguistischer Text­pro­duk­tions­forschung

Ethnographie verbindet sich …

          mit Grounded Theory (GT) und Theoretical Sampling, um Befunde aus Fallstudien nachvollziehbar zu verallgemei­nern. So kann sie Theorien mittlerer Reichweite darüber bilden, „what works for whom in what conditions“ (Paw­son/Tilley 1997: 72), also etwa Theorien zur Schreibpraxis in Domänen (Jakobs 2019) wie dem Journalismus. Befunde können dann zeigen, dass erfahrene JournalistInnen nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Prozesse bewusster gestalten und über Praktiken adaptiver, flexibler Planung verfügen (Perrin 2016), die ihnen helfen, mit Unvorher­gesehenem umzugehen und Schreibblockaden entweder zu vermeiden oder leichter daraus herauszufinden.

          mit Transdisziplinärer Aktionsforschung (TDA), um syste­ma­tisch mit der Praxis, über die Praxis und für die Praxis zu lernen (z. B. Cameron et al. 1992). So kann sie etwa Pro­totypen von kritischen Situationen und guten Prak­tiken der Textproduktion auf empirischer Grundlage her­ausarbeiten und der Praxis zur Verfügung stellen (z. B. Perrin 2013: 202). Konkret geschieht das oft mittels empirisch fundierten Anleitungen zu Arbeitstechniken, in schriftlich vermittelter Form oder in Beratungsformen wie Coaching oder Training (vgl. Whitehouse 2019: 103–126). Ausgehend von Sammlungen authentischer Fälle re­fle­k­tieren Teilnehmende ihre eigenen Schreibblo­cka­den und ihre guten Praktiken, damit umzugehen.

          mit Integrativer Gesellschaftstheorie wie etwa der Realist Social Theory (RST). So können Forschende aus situierter Tätigkeit auf unterschiedlich robuste über­greifende Struk­turen schließen (z. B. Sealey/Carter 2004), zum Bei­spiel aus den Schreibpraktiken in Zeitungs- und Fern­seh­redaktionen auf implizite gesellschaftliche Bedingun­gen für Schreiben, Textproduktion und Diskursgestaltung über­haupt. Befunde können etwa zeigen, dass fundamen­tal neue Lösungen in Redaktionen tendenziell emergent ent­stehen, an der Basis, in Krisen, die Medienmanage­ment und Medienpolitik überfordern. Solche Lösungen kön­nen aber begünstigt werden durch Strukturen, die Ge­sell­schaft und Medienmanagement den Redaktionen zur Verfügung stellen (vgl. Perrin 2011).

          mit Theorien dynamischer Systeme (DST), um zu model­lieren, welche Bedingungen in der Umwelt situierten Handelns eine emergente Lösung begünstigen (z. B. Agar 2004). Solche Theorien und Modelle erleichtern es, die komplexen, schwer vorhersagbaren Prozesse der Text­produktion zu verstehen, etwa die Umbrüche zwischen Schreibphasen (vgl. Fürer 2017). Befunde können zeigen, wie Kreativität und Routine in der Textproduktion zu­sam­menspielen und unter welchen Bedingungen es mit höherer Wahrscheinlich­keit „plötzlich nicht mehr läuft“, weil ein „Strong Attractor“ (Larsen-Freeman/Cameron 2008: 51) die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht und das dynamische Gleichgewicht des Schreibflusses kippt.

          Sollen also Praktiken journalistischen Schreibens mög­lichst umfassend (wirklich aus Innen- wie Außen­perspek­tiven) verstanden werden, sind Forschungsrahmen, wie oben beschrieben, zu öffnen und aufeinander zu bezie­hen. Forschung im Rahmen so erweiterter Ethnographie ermöglicht es erstens, Praktiken und ihre komplexe Dy­namik in Nahaufnahmen aus Innen- und Außenpers­pek­tiven zu erfassen; zweitens, das Erfasste zu verstehen als Untersuchungsoberfläche für Makrostrukturen unter­schied­licher Reichweite; und drittens, aus der Forschung Schlüsse zu ziehen mit theoretischem und praktischem Nutzen. In einem solchen Rahmen erweiterter Ethno­gra­phie soll also nun journalistisches Schreiben untersucht werden.

2 Kernbegriffe und Forschungsstand: Praktiken kollaborativer Textproduktion am journalistischen Arbeitsplatz

Schreiben im Journalismus ist meist Teil multimodaler und kolla­bo­rativer Produktion von Medienbeiträgen. Vollzogen wird es immer als Bündel von Praktiken, oft oszillierend zwischen Routine und Kreativität. Im Licht der Forschungs­frage und im Rahmen trans­dis­ziplinärer, ethnographisch basierter Forschung zu klären sind also die Kernbegriffe Schreiben und Textproduktion (Teil 2.1), Praktik, Strategie, Routine und Phase (2.2) sowie Arbeitsplatz und mehr­schichtiger Kontext (2.3).

2.1 Schreiben und Textproduktion

Schreiben und Textproduktion zielen auf die Herstellung semio­tischer Produkte, in denen Verbalsprache wichtig ist. Die Textpro­duktion unterscheidet sich vom Schreiben darin, dass sie die Be­ar­beitung nicht schriftsprachlicher Zeichen mit einschließt, also etwa das Editieren und Einbinden von Bildern und Klängen in Audio- und Videobeiträgen. Ein Text­produktionsprozess ist dem­nach das Ge­samt der Tätig­keiten zur Herstellung eines (multise­miotischen) Bei­trags mit namhaftem Anteil an Verbalsprache. Im Journalismus wer­den in Textproduktionsprozessen zum Beispiel Fern­seh- oder On­line-Nachrichten hergestellt – Produkte, die dann im öffentlichen Raum als multimodale Kommunikationsangebote fungieren.

Schreibprozess dagegen ist enger gefasst. Ein Schreib­prozess schließt alle Tätigkeiten innerhalb eines Textproduktionsprozesses ein, mit denen verbalsprachliche, schriftliche Kommunikations­an­ge­bote hergestellt werden (vgl. Jakobs/Perrin 2014: 7), meist aus­ge­hend von Quellentexten im Kontinuum zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die dann in Ausschnitten rekontextualisiert werden. Im Journalismus werden in Schreibprozessen etwa Sprechvorlagen für Rundfunk­nach­richten hergestellt und die Verbalteile von Print­beiträgen und Blogposts der Redaktion. Zum Schreibprozess gehört das Gestalten der Typographie; ohne Schriftgestaltung ist Schreiben nicht möglich. Nicht dazu gehört dagegen etwa das Schneiden von Videomaterial.


 

2.2 Praktik, Strategie, Routine und Phase

Textproduktion und Schreiben vollziehen sich als Praktiken. Die Textproduktionspraktik und die Schreibpraktik seien bestimmt als Tätigkeit zur Herstellung von multimodalen bzw. schriftsprach­li­chen Texten, die zugleich strategisch motiviert und routinisiert ist. Praktiken erfüllen kommuni­kative Funktionen wie etwa einen kom­plexen Sachverhalt veranschaulichen und sie werden durch Träger bestimmter Rollen in Institutionen wie einer Medien­redaktion immer wieder reproduziert. Dies geschieht mehr oder weniger bewusst, etwa als Teil standardisierter Nachrichten­produk­tion. Praktik zielt auf die passende Bewältigung einer grundsätzlich reflektierten Aufgabe in einer sich laufend verändernden Umwelt.

Der Praktik wohnt also, neben der dynamischen, eine übergeord­net gewollte, eine strategische Komponente inne. Praktik verhält sich zur Strategie wie der Akt zur Potenz. Verstehen wir unter einer Schreibstrategie die „verfestigte, bewusste und damit benennbare Vor­stellung davon, wie Ent­scheidungen beim Schreiben zu fällen sind, damit der Schreib­­prozess und das Textprodukt mit höherer Wahr­­schein­lichkeit die zielgemäße Gestalt annehmen und die ziel­gemäße Funktion erfüllen“ (Perrin 2013: 263), bezieht sich die Schreibpraktik auf das mehr oder weniger strategisch motivierte Tun des Schreibens, also auf die Aktualisierung der in der Strategie angelegten Potenz im konkreten Schreib­prozess.

Praktiken, so verstanden, werden in Ansätzen stets reflektiert und damit hinterfragt. Sie werden gestaltet und wenn nötig verändert durch die PraktikerInnen (z. B. Jones/Stubbe 2004), in ständiger Interaktion mit ihren Gemein­schaften (vgl. Wenger 1998). Reflek­tierte Praxis („Reflective Practitioners“ im Sinn von Schön 1983) und, hier, reflektierte Schreibpraxis (z. B. Bazerman 2002) entwi­ckelt ihre Prak­­tiken also zielführend weiter. Dies bedeutet, dass die Praktiken den Akteuren zu einem wesentlichen Teil bewusst sind, im Gegen­satz zu den (individuellen) Routinen wie etwa dem Tippen im Zehn­fingersystem und den (sozial eingeschlif­fenen) Prozeduren wie etwa dem Einkopieren von Adressen im E-Mail-Verkehr.

Zu einem solchen Begriff von Praktik Bourdieuscher Prägung (z. B. Hanks 1996; Pennycook 2010; Scollon 2001) gehört aber auch die Materialisierung, das „Embodiment“ (z. B. Goodwin 2000; Vare­la/Thompson/Rosch 1991): Praktiken verbinden mentale, materiale, semiotische, mediale und soziale Tätigkeit; sie umfassen den den­kenden Kopf, den tippenden Körper am vernetzten Computer am Arbeitsplatz, die sich verändernden Zeichen am Bildschirm – sowie die durch den Zeichengebrauch verbundenen Gemein­schaften. Weil Praktiken ihre Umwelt verändern und zugleich durch die Umwelt verändert werden, sind sie geprägt von und konstituierend für Gemeinschaften, Kulturen und Zeit­geschichte (z. B. Wenger 1998).

Schließlich sind Praktiken stets mit anderen verbunden: Sie bil­den Muster von Tätigkeiten, in denen sie aufeinander folgen, wie Inter­view führen und Interview trans­kribieren, oder einander pa­ral­lel ergänzen, wie Bild editieren und Offtext editieren. In groß­räu­mige Praktiken wie etwa sich mit sozialen Medien vernetzen kön­nen klein­räumigere Praktiken eingebettet sein, wie einen Blog­post schreiben, die dann auf einer nochmals tieferen, kon­kre­ten Ebene Praktiken umfassen wie einen Hashtag setzen. Das Konzept der Praktik ist also rekursiv – Praktiken enthalten Prak­tiken –, wobei Eigenschaften von Praktiken skalieren können, etwa der Zeitbezug in ein quote kürzen und einen Beitrag kür­zen.

Skalierende Rekursivität gilt auch für das Konzept der Schreib­phase. Unter Schreibphase verstanden wird hier ein Zeitsegment ei­nes Schreibprozesses mit relativ homogenem, vorhersagbarem Ver­lauf, begrenzt durch kritische Zustände mit unvorhersagbarem Aus­gang (vgl. Fürer 2017; Perrin 2012). Homogen ist die Phase durch das Bündel der darin vorherrschenden Praktiken. Grob unterscheidet die Schreibforschung zwischen linearen und nichtlinearen Phasen. In linearen Phasen entstehen verbale schriftliche Produkte idealer­weise Buchstabe um Buchstabe, Wort um Wort, Satz um Satz, Ab­satz um Absatz, Text um Text. In nichtlinearen Phasen springt, bild­lich gesprochen, die Einfügemarke am Bildschirm vor und zurück im entstehenden Produkt.

Ein Beispiel dazu: Wer ein Personenporträt biographisch aufbaut, kann im Schreibprozess Station um Station aus dem Leben der por­trätierten Person abarbeiten: zuerst die erste, zuletzt die letzte, pro Station ein Absatz. Auf der Ebene des gesamten Textes entsteht das Produkt in diesem Fall linear. Wird auch ein Absatz vom Anfang zum Schluss durchgeschrieben, ohne zurückzuspringen für Korrekturen im bereits entstandenen Text, skaliert das Konzept der linearen Pha­se für das Schreiben dieses Absatzes eine Ebene nach unten. Die­ses lineare In-die-Tasten-Erzählen kann aber unterbrochen wer­den von einer nichtlinearen Phase punktuellen Über­arbeitens, in der die Autorin zum Beispiel hin und her springt im Text, um Jahres­zahlen anzupassen.

2.3 Arbeitsplatz als mehrschichtiger Kontext

Praktiken treten also zeitgebunden auf; sie beziehen sich auf Kon­texte unterschiedlicher Reichweiten, innerhalb derer sie zum Zug kom­men. Für die Analyse von Praktiken der Nachrichten­pro­duktion zum Beispiel kann dies bedeuten: Praktiken sind zu kontex­tuali­sieren auf einer oberen Ebene von globalen Nach­richten­flüssen und gesel­lschaftlichen Diskursen, einer mittleren Ebene von Ar­beits­flüs­sen kollaborativer Textproduktion in Medienorgani­sa­tio­nen – und ei­ner unteren Ebene individueller Schreibtätigkeit am Ar­beits­platz. Während die Interaktion von Praktiken und Strukturen auf der ober­sten Ebene den Beteiligten weitgehend unbewusst blei­ben kann, sind Zusammen­hänge auf den tieferen Ebenen für die Be­tei­ligten direkt erfahrbar.

Auf der mittleren Ebene, kollaborative Textproduktion, stehen Prak­tiken in Wechselwirkung mit Organisationen, etwa einer Me­dien­redaktion, die eines der Glieder bildet in der intertextuellen Wertschöpfungskette globaler Nach­richten­­produktion. Man schafft Mehrwert, indem man recherchierend auf Quellenmaterial zugreift, es in arbeits­teiligen Prozessen zu neuen Exemplaren bestimmter kommunikativer Gattungen (vgl. Günthner/Knoblauch 1994; Luck­mann 1986) verarbeitet und die Produkte einer nächsten Instanz in der Kette zur Verfügung stellt. Dabei verändern sich, einsehbar für alle Beteiligten, sowohl die gemeinsam hergestellten Produkte als auch die Beziehungen zu den beteiligten Akteuren, etwa einer im Text kritisierten Instanz.

Auf einer unteren Ebene, individuelle Schreibtätigkeit, entschei­den sich die JournalistInnen laufend für bestimmte mögliche Text­pro­duk­tions­handlungen und gegen andere. Dieses Entscheiden ge­schieht weitgehend routinisiert, aber eben grundsätzlich reflek­tier- und damit veränderbar. Die Beteiligten erfahren die Praktiken ei­ner­seits als individuell gestaltbar, andererseits als eingebettet in ska­lierend über­geordnete Textproduktions­zusammenhänge und als be­zo­gen auf andere Teilhaber der Textproduktion, ähnlich wie Ge­sprächs­züge (z. B. Schegloff 1997). Die Praktiken greifen ineinander und prägen Phasen der Textproduktion an jeder Stelle der inter­tex­tuellen Ketten, an jedem Brennpunkt kollaborativer Textproduktion im Nachrichtenfluss.

3 Mehrmethodenansatz: Tief und breit erfassen, was warum geschieht

Wie lässt sich untersuchen, was wirklich geschieht, wenn Journa­list­Innen schreiben? – Gefragt ist ein methodischer Zu­gang, der eine möglichst umfassende Rekonstruktion (Teil 1) der Praktiken jour­nalistischer Textproduktion (2) ermöglicht. Der hier vorgestellte Mehrmethodenansatz der Progressions­analyse erfasst soziale (3.1), materiale (3.2) und mentale (3.3) Aspekte kollaborativer Text­pro­duktion so, dass aus den Praktiken auf individuelle, organisationale und gesellschaftliche Strukturen geschlossen werden kann.

3.1 Soziale Aspekte

Auf einer ersten Ebene erfasst die Progressionsanalyse, in welcher Um­welt, in welchem Kontext ein Text entsteht. Deutlich werden soll, wer die Beteiligten sind, was sie an Erfahrung mitbringen, wie sie zusammenarbeiten können und was sie dabei als sinnstiftend erfahren. Die Forschenden versuchen, neben der eigenen, durch The­orien von außen motivierten Sicht, die Perspektive der Betei­lig­ten, der PraktikerInnen, einzunehmen. Diesem Anspruch ge­recht wird erweiterte Ethnographie (s. o., Teil 1): Die Forschenden wer­den Teil des Forschungsfelds, indem sie zum Beispiel in einer Me­dien­redaktion als PraktikantInnen, Factchecker oder Coachs arbei­ten, und erleben so, was sie untersuchen.

Auf Phasen des Eintauchens folgen Phasen der Distanznahme, in denen die Eindrücke aus der teilnehmenden Beobachtung systema­tisch festgehalten und analysiert werden. Zudem sammeln die For­schenden wichtige Dokumente wie Leitlinien, nach denen sich die Beforschten am Arbeitsplatz zu richten haben, und führen offene Inter­views mit den PraktikerInnen, um deren Ein- und Vorstellun­gen auszuloten. Auf dieser ersten Ebene zielt die Progressions­ana­lyse auf dichte Beschreibungen (vgl. Geertz 1973) eines Milieus, hier der Arbeit von JournalistInnen in einer Medienredaktion und deren beruflichem Umfeld als einer „Community of Practice“ (vgl. Wenger 1998).

Damit erweitert die Progressionsanalyse eine Tradition, die vor allem in der anglo-amerikanischen Schreibforschung verankert ist: Um Schreiben im Kontext zu verstehen, werden Schreibende be­fragt, oft in narrativen Interviews. Ein Plenarvortrag an der „50th Anni­versary Dartmouth Institute and Conference“ zum Beispiel wurde von den Veranstaltern angekündigt mit den Worten: „Influ­enced by the materialist, sociological perspectives of C. Wright Mills, Daniel Bertaux, and Howard Becker, [Deborah] Brandt col­lects and comparatively analyzes in-depth, retrospective life inter­views with everyday people to explore the social structures and pro­cess­es that bear on literacy and its changing conditions and mean­ings over time.“[2]

Aus den so entstandenen Daten werden dann Außen- und Innen­sichten (re-)konstruiert (z. B. Brandt 2014). Diese Auswertung der Daten kann durchaus zusammen mit den befragten PraktikerInnen ge­schehen. Für sich verbuchen kann ein solcher Zugriff, dass er tech­nisch unkompliziert ist, solange er sich auf Interviews be­schränkt. Dies mag mit ein Grund sein, dass die Schreibforschung heu­te auf umfangreiche Sammlungen von Interviews mit und Por­träts von Schreibenden zurückgreifen kann, die aus dem einen oder anderen Grund das Interesse der Forschenden geweckt haben. Ein Bei­spiel der Verdichtung von Gesprächen und kleinen biogra­phi­schen Analysen zu Porträts ist die Textsorte Laudatio (Abb. 1).

Zur Person MD: Ihre Eltern flüchteten nach der Übernahme der Kommunisten in den 50er-Jahren aus China in die Schweiz. Sie kam 1963 zur Welt, studierte später Kunstgeschichte und schrieb für mehrere Printmedien. Vor zehn Jahren wurde die heute 47-Jährige als Quereinsteigerin vom Schweizer Fernsehen bei der Sendung Netz-Natur als Redaktorin angestellt. Nach Zwischenhalten bei den Sendungen Quer, Mittagsmagazin und Leben Live stiess sie vor zweieinhalb Jahren zum Kulturplatz-Team und produziert mit ihrer 80-Prozent-Anstellung zwischen 15 und 20 Beiträgen pro Jahr. Diesen mit dem Fernseh- und RGB-Preis ausgezeichneten Beitrag hat MD in acht bis neun Tagen realisiert. Das Spezielle daran ist: Sie hat als Videojournalistin etwa die Hälfte der Aufnahmen selber gefilmt. Die Mutter einer achtjährigen Tochter lebt mit Familie und Hund in Zürich und bezeichnet sich als Naturfanatikerin, die gerne draussen unterwegs ist und viel Sport treibt.

Abb. 1: Fall MD, Kurzporträt von MD in einer Laudatio von 2010.
https://www.srgd.ch/media/filer_public/ 21/1e/211e2d9d-62de-4bba-af82-c0413d823665/2010_laudatio_m[…]_d[…].pdf

Ein Nachteil des methodisch schlanken Zugangs zur narrativen Selbst­einschätzung ist das eingebaute vierfache Risiko der Verzer­rung: Erstens nehmen wir nicht alles wahr, was wir tun; zweitens vergessen wir mit der Zeit viel von dem, was wir wahrgenommen haben; drittens re-konstruieren wir Erlebtes aus bruchstückhafter Er­innerung neu und anders, wenn wir es scheinbar unverändert aus dem Gedächtnis abrufen; und viertens lügen wir, je nach Gesprächs­situation, dabei unbewusst oder bewusst, etwa um uns in einem gu­ten Licht zu zeigen. So „bestehen große Unterschiede zwi­schen dem, was SprecherInnen darüber sagen, wie sie Sprache verwen­den[,] und ihrer tatsächlichen Verwendung“ (Günthner 2003: 192).

Aus diesem Grund hat sich in der Literaturwissenschaft ein An­satz herausgebildet, der nicht nur die Äußerungen der Autor­Innen zu ihren Schreibprozessen untersucht, sondern auch deren materia­lisierte Spuren. Mit ihrem Ansatz der Critique Génétique hat eine For­schergruppe um Almuth Grésillon literarische Manuskripte auf optisch feststellbare Spuren von Produktionsprozessen untersucht, wie etwa Streichungen, Einfügungen, Umstellungen und Kommen­tare (z. B. Grésillon 1994; einen Überblick bietet Grésillon/Perrin 2014). Später kam die Analyse radiologisch feststellbarer Spuren dazu, etwa des Alters bestimmter Textteile, messbar am Zerfall radioaktiver Elemente in der Tinte.

Diese Spuren der Prozesse ermöglichen einen empirisch begrün­deten Einblick in die „allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben“ (Grésillon 1995: 1) – und damit auch eine kritische Lese­weise dessen, was die Autoren über die Herstellung ihrer Werke be­rich­tet hatten. Denn der mehrperspektivische Zugang zum Schreib­prozess offenbart Parallelen, aber auch Widersprüche zwischen erinnerter und materialer Welt. So erstaunt nicht, dass der Linguist Gerd Antos in seiner Einführung in einen grundlegenden Band zur Textproduktionsforschung die Übertragung dieses Ansatzes auf nichtliterarische Textproduktion forderte, als Beitrag „für eine strikt linguistisch motivierte Produktions­theorie“ (Antos 1989: 36).

3.2 Materiale Aspekte

Auf einer zweiten Ebene misst die Progressionsanalyse, was bei der Textproduktion am Arbeitsplatz physisch geschieht. Festgehalten wird, an den Einzelarbeitsplätzen von untersuchten individuellen Schrei­benden oder an möglichst allen Arbeitsplätzen einer unter­such­ten Institution, jeder Cursor-Klick, jeder Tastendruck, jede Be­we­gung am vernetzten Computer. Stellt die Forschung, wie hier, scharf auf Schreibprozesse, ist das sprachliche Geschehen im ent­ste­henden Text besonders wichtig: Was wird wann eingefügt, ge­löscht, verschoben? Aus welchen Quellen stammt es? An welcher Stelle arbeiten die Untersuchten auf welche Art mit wem zusam­men? Wie nutzen sie dabei Werkzeuge wie digitale Nachschlage­werke?

Aufgezeichnet werden können die Daten parallel in zwei unter­schied­lichen Formaten: zum einen als Logging-Daten der Com­pu­ter­eingaben, zum anderen als Videos des gesamten Geschehens am Bildschirm und im Raum. Zusammen ermöglichen die Daten eine zeit­ge­naue Vermessung, Wiedergabe und Analyse von Schreib­pro­zessen im medialen Kontext. So sieht man zum Beispiel, wie die Journalistin MD den ersten Absatz im Text – den Vorspann, der fett gesetzt über dem Text stehen wird – umgebaut hat. Die sprach­lichen Basisdaten dieser Beobachtung sind festgehalten in standar­disierten Notationssystemen für Schreibprozesse, hier in S-Notation (Abb. 2), und grafisch visualisierbar in Darstellungen wie der Pro­gres­sionsgrafik (Abb. 3).

"b1[nis |1]1is dass der Tod euch scheidet…"

8[Sie ist Schweizerin und heiratet ihn aus Liebe. Er ist Afrikaner und möchte 2[einen  |2]2in der Sch3[e |3]3weiz bleiben. Eine ehetragödie nimmt ihren Anfang. Sie 5[endet]5 |66{sollte}6 |7 vor dem Scheid4[e |4]4ungsrichter7[.  |5]7 enden. doch  |8]8

Sie versprachen74{ dem Ziv75[el |75]75, 76[o |76]76ilstandsbeamten}74 |77, sich zu 9[leiben]9 |1010{lieben}10, 77[,]77 |7878{ und}78 |79 zu  |9ehren79[ und gemeinsam für die Kinder zu sorgen]79 |80. Doch 17[die Tr11[g |11]11agödie]17 |1818{das bittere Ende}18 |19 war 19[unausweichlich]19 |2020{abzusehen}20.

Abb. 2: Fall MD, S-Notation eines Ausschnitts aus dem Schreibprozess.

Die S-Notation (vgl. Perrin 2013: 257; Severinson-Eklundh/Kollberg 1996) zeigt, wie ein Text entstanden ist, Schritt für Schritt. Löschung um Löschung, Einfügung um Einfügung. Passagen in [eckigen] Klam­mern wurden im Lauf des Schreibprozesses gelöscht, solche in {ge­schweiften} Klammern wurden gesondert eingefügt. Zusammen­ge­nommen werden diese Einfügungen und Löschungen als Revisio­nen bezeichnet. Senkrechte Striche | bedeuten Absprungstellen. Sie ste­hen dort, wo die schreibende Person den linearen Schreibfluss un­ter­brochen hat, um an eine andere Stelle im Text zu springen und dort etwas zu löschen oder einzufügen. Die kleinen Zahlen bei den Klammern und Strichen zeigen die Reihenfolge dieser Schritte.

Im gezeigten Ausschnitt erstellte MD zu Beginn ihres Schreibpro­zesses eine erste Fassung von Titel und Lead (Vorspann) linear und korrigierte dabei laufend Vertipper (Revisionen 1–7). Dann löschte sie den ganzen bisher geschriebenen Lead (Revision 8) und ersetzte ihn mit einer neuen Variante: „Sie versprachen, sich zu lieben, zu ehren und gemeinsam für die Kinder zu sorgen. Doch die Tragödie war unausweichlich.“ Diese zwei Sätze überarbeitete sie in zwei Etappen, zuerst den zweiten (Revisionen 11–20), deutlich später den ersten (Revisionen 74–79). Die S-Notation ermöglicht solch präzise Analysen der Schreibtätigkeit. Sämtliche Revisionen auf einen Blick dagegen zeigt die Progressionsgrafik (Abb. 3).

Macintosh HD:Users:dani:Desktop:progression graph.png

Abb. 3: Fall MD, Progressionsgrafik (aus Perrin 1997: 244).

Während also die S-Notation scharfstellt auf die einzelnen Schritte im Schreibprozess, veranschaulicht die Progressionsgrafik (vgl. Perrin 2013: 262) dessen Gesamtverlauf. Sie zeigt die Reihenfolge der Revisionen auf zwei Achsen: auf der x-Achse im Zeitverlauf, auf der y-Achse als Position im fertigen Text. Revisionen links in der Grafik finden früher im Schreibprozess statt, solche rechts später; Re­visio­nen oben in der Grafik betreffen Textstellen am Anfang des fertigen Produkts, Revisionen unten welche am Textende. Im Bei­spiel oben (Abb. 3) findet die erste Revision am Anfang des Schreib­pro­zesses statt und steht zudem am Anfang des fertigen Text­pro­dukts: Die Autorin beginnt zu schreiben und korrigiert so­gleich einen Tipp­fehler.

Deshalb ist diese erste Revision, als roter Punkt, sowohl auf der x- wie auf der y-Achse auf Position 1 abgebildet. Danach zeigt die Progressionsgrafik ein grundsätzlich lineares Vorwärtsschreiben, un­terbrochen von Rücksprüngen im bereits geschriebenen Text. Der erste markante Sprung zurück etwa gilt der Überarbeitung des ersten Satzes im neuen Lead, „Sie versprachen, sich zu lieben, zu ehren und gemeinsam für die Kinder zu sorgen“ (vgl. Abb. 2). Zudem zeigen sich kurze Phasen des zusam­men­­hängenden Über­arbeitens früherer Textteile (z. B. 374–401). Schließlich führt die Grafik vor Augen, dass einige Textstellen in größerem zeitlichem Abstand mehrfach überarbeitet wurden (z. B. 374–401 und 663–681).

3.3 Mentale Aspekte

Auf der dritten Ebene der Progressionsanalyse erschließen die For­schenden, warum die Schreibenden tun, was sie tun. Dies also, nach­dem die zweite Ebene materiale Aspekte des Schreibens erfasst hat und die erste kontextuelle. Gefragt wird nach den Überlegungen hinter den Entscheidungen, die Schreibende laufend zu fällen ha­ben. Großflächige Entscheidungen betreffen etwa das Verständ­nis der zu lösenden Aufgabe oder die Planung der Ressourcen. Klein­räumige Entscheidungen betreffen zum Beispiel Satzbau, Wort­wahl, Rechtschreibung. Dazwischen spannt sich das Feld der Strategien und Praktiken auf, mit denen Schreibende ihre Prozesse steuern, teils bewusst, teils unbewusst und routinisiert (s. o., Teil 2.2).

Was sich die Schreibenden überlegt haben können, erschließt die Progressionsanalyse über das methodische Werkzeug des ereignis­gestützten retrospektiven Verbalprotokolls (RVP): Die Schreiben­den verfolgen eine Aufzeichnung ihres Schreibprozesses am Bild­schirm, wo sie Schritt für Schritt sehen, wie ihr Text entstanden ist. Zur Wiedergabe dieses Films greift der Computer auf Daten aus der zweiten Ebene der Progressionsanalyse. Während der Film läuft, kom­mentieren die Beforschten ihr Handeln laufend: Sie sagen, was sie getan haben und warum. Schweigen die Beforschten, wieder­holen die Forschenden die Arbeitsanleitung. Das so erzeugte RVP wird als Tonspur über den Film der Textentstehung gelegt und da­nach transkribiert (Abb. 4):

R 074   Dann gehe ich nochmal in den Lead hoch. Sie versprachen dem Zivilstandsbeamten, sich zu lieben, zu ehren – es muß ja irgendwie nochmal das mit der Hochzeit hinein.

        […]

R 140   Erika S. wurde in der Innerschweiz geboren, ich möchte mit ihrer Biografie anfangen.

Abb. 4: Fall MD, Retrospektives Verbalprotokoll, Kommentare zu den Revi­sio­nen 74 und 140.

So bringt das RVP idealerweise zur Sprache, was die Beforschten ver­ba­lisieren können: Das sind ihnen bewusste und deshalb abruf­bare Überlegungen zum Schreibprozess, gedeutet als ihr Re­per­toire an bewussten Strategien und Praktiken (s. o., Teil 2.2). Auf Strate­gien lassen Äußerungen im RVP schließen, deren propositio­nale Form lautet, Ich tue x, um y zu erreichen, oder Ich tue x, weil z gilt. Ein Beispiel: Zurückspringen, weil ich etwas einfügen will (Abb. 4, zu Rev. 074), oder einen Titel setzen, obwohl er provi­sorisch ist (Abb. 5). Auf Praktiken deuten Äußerungen zu nicht wieter begründeter Tätigkeit, im propositionalen Format Ich tue x. Ein Beispiel: Mit der Biografie anfangen (Abb. 4, zu Rev. 140) oder im Lead den Überblick geben (Abb. 6).

R 001   Den Titel habe ich irgendwie schon im Kopf gehabt, aber ich weiß, daß er nur provisorisch ist, es soll etwas mit Hochzeit zu tun haben

Abb. 5: Retrospektives Verbalprotokoll, Kommentar zu Revsion 1.

R 008   Dann der Lead, wie bringe ich das hinein mit der Hochzeit, Sie versprachen, sich zu lieben, zu ehren und gemeinsam für die Kinder zu sorgen, ich möchte da möglichst eine Kurzübersicht geben von dem, was nachher kommt.

        […]

Abb. 6: Retrospektives Verbalprotokoll, Kommentar zu Revision 8.

Diese Deutung der Verbalisierung ist allerdings zu hinterfragen. Methodologische Forschung zeigt, dass retrospektives Erinnern an Zuverlässigkeit gewinnt, wenn es ereignisgestützt verläuft: Sieht man wieder, was man tat, erinnert man sich leichter an damalige Über­legungen und rekonstruiert sie adäquater (z. B. Weder 2010). Grundsätzlich ist aber jede Verbalisierung eine subjektive (Re-) Kon­struktion. Das RVP fördert demnach nicht zutage, was sich je­mand tatsächlich überlegt hat beim Schreiben, sondern was diese Person grundsätzlich bewusst dazu überlegen kann – und im Fall auch dieses Schreibprozesses überlegt haben könnte: eben das Repertoire der abrufbaren Strategien und Praktiken.

Demnach erschließt diese dritte Ebene der Progressionsanalyse, genau besehen, mögliche Überlegungen hinter Entscheidungen der Schreibenden, deren Spuren sichtbar geworden sind auf der zweiten Ebene der Analyse – und die deutbar sind im Kontext, wie ihn die erste Ebene der Analyse rekonstruiert hat. Die Progressionsanalyse des hier gezeigten und weiterer Schreibprozesse ergibt: MD be­schreibt vorwiegend Einzelschicksale, in linearen Texten und mit in fast linearer Progression, wobei sie sorgfältig, ziselierend, an den For­mu­lierungen arbeitet. Dieses Repertoire hat sich MD beim Lösen der üblichen Schreibaufgabe zugelegt; es ist ideal zur Bewältigung wei­terer solcher Aufgaben. Für ganz anders gelagerte Aufgaben journalistischer Textproduktion wäre das Repertoire weiter auszu­bauen.

4 Befunde: Makrotrend und Gegenstrom

Was zeigt die Progressionsanalyse (Teil 3), wenn damit über längere Zeit Praktiken journalistischer Textproduktion untersucht werden (2), um herauszufinden, was JournalistInnen wirklich tun, wenn sie schreiben (1)? – Dieser Teil skizziert zuerst die wichtigsten Befunde aus einer Reihe von aufeinander folgenden und aufeinander auf­bau­enden Forschungsprojekten (4.1) und stellt dann scharf auf Kon­stan­ten (4.2) und Wandel (4.3) der Textproduktion im Untersu­chungs­zeitraum.

4.1 Aufbauende Befunde aus der Reihe der Forschungsprojekte

Die empirischen Daten für die Analyse der oben vorge­stellten Kontexte und Praktiken entstammen einer Reihe von Projekten zur Textproduktionsforschung in Nachrichten­redaktionen. In allen Pro­jekten wurden mit der Progressionsanalyse Daten zum Schreib­prozess so einheitlich erhoben, dass sie über den Zeitraum von 1995 bis heute vergleichbar sind und damit tief greifende Langzeit­ana­lysen journalistischer Textproduktion möglich machen. In Frage­stellung und Forschungsrahmen werden die Projekte dagegen zu­neh­­mend komplexer, sie bauen systematisch aufeinander auf. Dabei wächst auch die Erhebungsbreite an, von einzelnen Fällen im Pilot­projekt bis zu ganzen Redaktionen in den jüngeren Projekten.

          Das Projekt SDA (1995–1998) erfasst, was Agenturjourna­listInnen in kollaborativer Textproduktion tun sollen, tun wollen und tun – also die ethnographische Innenperspek­tive im beruflichen Kontext. Im Zentrum stehen Prak­ti­ken der Rekontextualisierung von Zuliefertexten unter­schied­licher Quellen und deren Folgen für das Text­pro­dukt (vgl. Perrin 2013: 170). Zu den Hauptbefunden zählt, dass Kohärenzbrüche im Text oft dort entstehen, wo die Au­torInnen durch stark nichtlineares, fragmentiertes Schrei­ben aus den Augen verloren haben, was tatsächlich da steht im fertigen Text, quasi in den Zeilen also – und was sie sich selbst beim Nachlesen zwischen den Zeilen da­zu­denken. Der Prozess zieht nachweislich seine Spur im Produkt.

          Das Projekt BAKOM (1997–2000) erweitert diesen An­satz um eine Grounded Theory zur Beziehung zwischen Be­rufs­erfahrung und den Repertoires an Textproduk­ti­ons­­prak­tiken. Untersucht werden Schreibende in Print-, Radio-, Fernseh- und Online­-Redaktionen. Entwickelt wird eine Typologie von Erfahrung als Ressource im Be­rufs­feld (vgl. Perrin 2013: 189). Sie zeigt, dass Journalist­Innen mit langer Erfahrung mit unterschiedlichen Medien und Formaten dazu neigen, früher, weitsichtiger und zu­gleich flexibler zu planen als ihre weniger erfahrenen Kol­legInnen. Zugleich planen sie stärker den Prozess sowie den großen Bogen und die Wirkung des Produkts, wäh­rend die wenig Erfahrenen vor allem an die kleinräumige Produktstruktur denken.

          Das Projekt TA (1999–2001) zeigt darüber hinaus in trans­disziplinärer Forschungstradition, wie unerfahrenere von er­fah­reneren Textproduzierenden lernen können. Einge­setzt werden Methoden der Wissenstransformation. Ver­tre­ter­Innen aus Wissenschaft und untersuchter Praxis ent­wickeln gemeinsam einen Qualitätszirkel aus Redakti­ons­leitbild, Blattkritik, Coaching und Training für eine große Tageszeitung (vgl. Perrin 2013: 206). Als Ergebnis lebt die Redaktion ein explizites Qualitätsverständnis. Sie verfügt über Prozesse und eine gemeinsame Sprache, um Soll und Ist der eigenen Textproduktion laufend aufein­ander zu beziehen, das Soll aufgrund gelebter Praxis zu überdenken und das Ist, also die tägliche Textproduktion, daran zu messen.

          Das Projekt Idée suisse (2005–2010) stellt scharf auf den Bezug zwischen Praktiken journalistischer Textproduk­ti­on und sozialen Strukturen. Untersucht wird die Nach­richten­produktion in deutsch- und französischsprachigen Redaktionen des öffentlichen Schweizer Fernsehens im me­dienpolitischen, -technologischen und -wirtschaftli­chen Wandel (vgl. Perrin 2013: 33). Das Hauptergebnis: Die Kluft zwischen politischen und wirtschaftlichen Er­wartungen an den Sender – politisch relevant sein und Reich­weite erzielen – überwinden nur einzelne erfah­re­ne JournalistInnen, mit „Tacit Knowledge“ (vgl. Polanyi 1966; Sarangi 2007: 570). Ihre Praktiken lassen sich zur Sprache bringen und der ganzen Organisation zur Verfü­gung stellen.

          Das Projekt Modeling Writing Phases (2010–2013) fragt nach dem Zusammenspiel von Routine und Emergenz im zeitlichen Verlauf des Textproduktionsprozesses. Mit Ver­fahren maschinellen Lernens analysiert werden die großen Korpora automatisch erzeugter Progressions­da­ten aus früheren Projekten (vgl. Fürer 2017; Perrin 2013: 246). Als Ergebnis entsteht eine Typologie von Merkma­len von Schreibphasen, von der angenommen wird, dass sie skalieren – also für kleinräumige bis großräumige Pha­sen gelten. Aufgrund dieser Merkmale sind Schreib­pha­sen unterschiedlicher Reichweiten in Textproduktions­daten grundsätzlich algorithmisch identifizierbar, was ei­ne automatische Schreibprozessdiagnose in Echtzeit er­mög­licht.

          Weitere Projekte wie Argupolis (2012–2015) und Indvil (2017–2019) vertiefen das Wissen zum Zusammenspiel ar­gumentativer, narrativer und visueller Praktiken in der Text­produktion. Mit jedem Projekt kommen neue Kor­pora dazu, etwa mit Daten anderer semiotischer Modi so­wie anderer Sprachen, aus anderen Kulturräumen (z. B. Perrin 2013: 223; Zampa 2017). Zu den Ergebnissen aus solchen Projekten zählt, dass narrative Praktiken im Jour­nalismus typischerweise zu narrativen Fragmenten führen – Texten also, die eine Geschichte nicht explizit zu Ende erzählen, die aber geeignet sind, narrative Muster bei den AdressatInnen zu evozieren und dann von ihnen sozu­sa­gen zu Ende erzählt zu werden (vgl. Perrin/Zampa 2018).

Im Ganzen liegen vergleichbar aufbereitete Daten vor, zu Zehntau­senden von Textproduktionsprozessen und Hunderten von Schrei­ben­den in Nachrichtenredaktionen (vgl. Perrin 2019). Dieses Haupt­korpus ergänzen Daten aus ähnlichen, kleineren Projekten zur Text­produktion in Domänen wie Übersetzen (z. B. Ehrensberger-Dow/ Perrin 2011), Organisationskommunikation (z. B. Bremner 2014), Fi­nanz­kommunikation (z. B. Whitehouse 2019) und Schule (z. B. Gnach et al. 2007). Langzeitvergleiche zu Schreibprozessen inner­halb einer Domäne sind aber nur möglich im Hauptkorpus. Hier zei­gen sich, dialektisch, zugleich Konstanz (4.2) und Wandel (4.3) der Praktiken.

4.2 Konstanten im Untersuchungszeitraum

Als Konstante im Untersuchungszeitraum erweist sich das Zusam­men­spiel von Kontexten und Praktiken journalistischen Schreibens. Unabhängig etwa von Mediatisierung der Öffentlichkeit, Professio­nalisierung des Berufsfelds, Aufgabe der Redaktion oder Erfahrung der Textproduzierenden lassen sich die Praktiken sinnvoll 16 Tätig­keitsfeldern zuordnen, die eng verbunden sind mit fünf Kontexten der Textproduktion. Dieses Zusammenspiel ist in der Grafik der „Writing Helix“ (Jakobs/Perrin 2014: 21) veranschaulicht. Die mit Gerundien formulierten Bezeichnungen in der Grafik beziehen sich auf die Tätigkeitsfelder als Bündel journalistischer Schreib­prak­ti­ken. Die grafischen Elemente symbolisieren die Kontexte, mit de­nen diese Praktiken interagieren (Abb. 7):

writing-helix_all_2011

Abb. 7: Zusammenspiel der Praktiken kollaborativer Textproduktion (vgl. Perrin 2013: 151)

          den sozial, institutionell und technologisch eingebetteten Arbeitsplatz mit Praktiken zum Umgang mit dem sozialen Umfeld, etwa mit InformantInnen, BerufskollegInnen so­wie der eigenen und fremden Organisationen (Hand­ling social environment), mit anderen, gleichzeitig zu be­wäl­ti­genden Projekten (Handling task environment) und mit dem Schreibwerkzeug (Handling tools envi­ron­ment). Solche Praktiken kommen in Textproduk­ti­ons­prozessen durchgängig vor. MD zum Beispiel setzt sich – Handling social environment – vertieft mit den Per­sonen auseinander, deren Schicksal diese Personen dann zum Gegenstand und zur Hauptperson, zum zentra­len Textakteur ihrer Medienbeiträge macht.

          die Schnittstellen zur intertextuellen Wertschöpfungs­ket­te, mit Praktiken zum Verständnis und zur Festlegung der Aufgabe (Comprehending the task) sowie, an der Schnit­t­stelle zur nächsten Produktionsstufe, Praktiken zur Implementierung des neu geschaffenen Textprodukts (Implementing the product). In Prozessen erfahrener Schrei­bender prägen Praktiken zu Defining the task typischerweise frühe Phasen der Textproduktion, Prakti­ken zu Implementing the product dagegen späte. MD etwa arbeitet im hier untersuchten Prozess zuerst intensiv am Vorspann und am Textanfang und legt sich damit auf ein Programm für den Artikel fest, womit sie auch für sich selbst klärt, welcher Aufgabe sie sich mit diesem Beitrag stellen will.

          den Schreibprozess in einem engeren Sinn, zu dem Prak­tiken aus vier Feldern gehören: den gemeinten Sinn des Pro­zesses bestimmen (Goal setting), den Prozess pla­nen (Planning), ihn als Schreibfluss umsetzen (Con­­trol­ling) und dabei immer wieder den Fortschritt über­wa­chen (Monitoring). Typischerweise arbeiten sich Schreiben­de rekursiv, spiralförmig durch diese vier Fel­der von Praktiken. Bei Goal setting fokussieren sie je­weils eher auf große Textteile, bei Controlling auf klei­ne. Kleinräumiges und großflächiges Gestalten können ein­­ander aber überlagern. MD arbeitet sich im Großen li­near durch den entstehenden Text und damit durch die Ge­schichte ihrer Textakteure; kleinräumig feilt sie rekur­siv an Formulierungen.

          das intertextuelle Umfeld, mit Praktiken einerseits zum Lesen von Quellentexten (Reading source text), ander­er­seits zum Lesen des neu entstehenden Textes (Reading own text). Typischerweise überwiegt bei erfahrenen Schreibenden in frühen Phasen das Lesen von Quellen­texten, dann nimmt Reading own text zu. Eine Ände­rung der Aufgabe oder der Informationslage kann aber von allen Schreibenden erfordern, Quellentexte wieder o­der neu zu lesen. MD arbeitet im gezeigten Fall an einem Thema, das sie ohne Aktualitätsdruck recherchieren und dann, nach Abschluss der Recherche, mit wenig Zeitdruck als Text gestalten kann. Ereignisse, die eine Neubewer­tung der Lage verlangen würden, sind nicht zu erwarten.

          das beabsichtigte Wirkungsfeld des entstehenden Pro­dukts, mit Praktiken zur Festlegung und Begrenzung des The­mas (Limiting the topic), zum Einbezug von Quellen (Fin­ding the sources), zum Bezug einer eigenen Po­sition (Taking own position), zur dramaturgischen In­sze­nierung (Staging the story) und zum Sichern des Adres­satenbezugs (Establishing relevance for the au­dience). Erfahrene Schreibende neigen dazu, grund­sätz­liche Entscheidungen zum Produkt in frühen Phasen zu fällen. MD legt die dramaturgischen Eckpunkte und die damit verbundenen Kernbegriffe (Ehe, Tod; s. o., Abb. 2) ihrer Geschichte zu Beginn fest und kommt darauf zurück, während ihr Produkt entsteht – vor allem in frühen Pha­sen des Schreibprozesses.

Ein Zwischenfazit im Sinn von Theorien dynamischer Systeme: Das entstehende Produkt lässt sich verstehen als „Fixed Point Attractor“ (z. B. Larsen-Freeman/Cameron 2008: 187), als Landepunkt einer im Detail kaum vorhersehbaren Entwicklung eines Texts von der ers­ten Idee bis zum letzten Punkt – und damit auch als letztes Ziel eines ko-adaptiven Einsatzes von Praktiken im dynamischen, kom­plexen System des Textproduktionsprozesses, der inkrementell und rekur­siv verläuft, mit sich überlappenden und wiederkehrenden Phasen, und der mitgesteuert wird durch Treiber wie interagierende Prakti­ken der Festlegung, zum Beispiel durch Comprehending the task sowie, lokaler, durch Goal setting und Planning.

4.3 Veränderung im Untersuchungszeitraum

Während sich die Schreibspirale als Raster von Kontexten und Feldern von Schreibpraktiken für den ganzen Untersuchungs­zeit­raum bewährt hat, verschiebt sich mit zunehmender Digitalisierung das Zentrum der Praktiken vom fokussierten Schreiben zum bei­läu­figen Schreiben (vgl. Hicks/Perrin 2014). Bei fokussiertem Schreiben ent­steht in längeren Phasen ein ganzer Text, der sorgfältig über­ar­beitet wird vor der Publikation. Bei beiläufigem Schreiben dagegen schreibt man in Content-Management-Systeme sozialer Medien Kleinst­beiträge, oft bildbezogen und als Reaktion auf andere solche Bei­träge, wodurch man ständig in schriftlichem Dialog steht mit vie­len anderen. Man ist also, in anderer Leseweise als der von MD in­ten­dierten, „immer“ und überall „irgendwie am Schreiben“.

Diese Verschiebung vom fokussierten zum beiläufigen Schreiben im Journalismus verläuft grob in vier Phasen (vgl. Miller et al. 2016; Perrin/Gnach 2017): Um 1990 übertragen JournalistInnen das damals übliche fokussierte Schreiben von gedruckten Medien in die neue Publikationsumgebung Internet. Um 2000 wird während des fokus­sierten Schreibens beiläufig recherchiert im Internet, das am journa­listischen Arbeitsplatz immer breiter akzeptiert ist. Um 2010 wird für JournalistInnen üblich, beruflich soziale Medien zu nutzen, um The­men aufzuspüren, Quellen zu erschließen und Adressaten einzu­bin­den. Gegen 2020 wird diese Bewirtschaftung der Anspruchsgruppen durch beiläufiges Schreiben zentral und zeitlich dominant.

Diese Entwicklung verändert die Anforderungen an Journalist­In­nen. Früher waren eher EinzelkämpferInnen gefragt, die im Stillen ihr Werk fertigstellten vor der Veröffentlichung; heute dagegen muss auf allen Kanälen ständig kommunikativ präsent sein, wer sei­ne Marke und die des Medienprodukts positionieren will. Die Reso­nanz der Beiträge wird online gemessen, häufig kommentierte (weil gut bewirtschaftete) Beiträge werden belohnt durch prominente Plat­zierung im Angebot der Redaktion. Selbstverständlich wirkt die­ser Mechanismus auf Themensetzung und dramaturgische Aufberei­tung der Beiträge zurück – und damit sowohl auf die Produktions- und die Rezeptionspraktiken als auch auf den öffentlichen Diskurs (vgl. Haapanen/Perrin 2018).

Aus solchem Wissen lässt sich für die Praxis von Journalismus und öffentlicher Kommunikation einiges ableiten: Zum Beispiel mag es sin­nvoll erscheinen, einerseits angehende JournalistInnen auf die enge Verzahnung von fokussiertem und beiläufigem Schreiben vor­zu­bereiten und, andererseits, über die Volksschule eine allgemeine Media Literacy zu fördern, mit der MediennutzerInnen die Mecha­nis­men des Aufschaukelns von Themen in Blasen algorithmisch gesteuerter Relevanzkonstruktion durchschauen und sich fakten­ba­siert informieren können. Journalismus kann nur zur Öffentlich­keits­bildung in der Demokratie beitragen, wenn er Wesentliches lei­s­tet – und wenn dieses Wesentliche auch nachgefragt und verstan­den wird (z. B. Schudson 2008).

Der Beitrag hier stellt aber scharf auf eine andere, noch kaum dis­ku­tierte Erkenntnis. Wer über längere Zeit genau untersucht, was wirk­lich geschieht, wenn JournalistInnen schreiben, erkennt in den Daten Hinweise auf Selbstregulierung des Systems. Konkret: Es gibt auch im Journalismus „Positive Deviants“ (vgl. Spreitzer/Sonenshein 2004), die den gerade angesagten Trends trotzen und damit einen möglichen übernächsten Systemzustand vorwegnehmen. Ein Bei­spiel ist MD. Der Fall führt vor Augen, warum sich eine trans­dis­zi­plinäre Herangehensweise an den Gegenstand lohnen kann, wenn es gilt, forschungsbasiert von, für und miteinander zu lernen – eben etwa zu lernen, was tatsächlich geschieht, wenn JournalistInnen schreiben.

Erste Daten zum Fall MD wurden 1996 mit der Progressions­ana­lyse erfasst (s. o., Teil 3). MD nutzte das Projekt, um eine Frage an die Gemeinschaft aus Forschenden und Beforschten zu stellen, die sie als Praktikerin bewegte (s. o., 1.2): Sie wollte wissen, warum ihr das Schreiben meist, aber nicht immer leicht fiel  – kurz: „warum es plötzlich nicht läuft“. Im Projekt zeigte sich, dass MD immer dann leicht schreiben konnte, wenn sie ihr Prozessmuster wiederholte: ein gesellschaftlich bedeutsames Problem aufgreifen, indem sie ein Einzelschicksal annähernd chronologisch erzählt, mit viel Sorgfalt für sprechende Details, die sie der Reihe nach abarbeitet. Nur bei den anderen Text- und Prozessmustern geriet ihr Schreibfluss ins Stocken.

Im Coaching nach der Datenanalyse wollte MD ihr Repertoire erweitern, um neue Muster, Schreibprozesse und Textprodukte zu gestalten – was punktuell gelang. Die große Veränderung erzielte MD dann aber, indem sie sich unbewusst entschied, bei ihren Mustern zu bleiben und stattdessen ihre beruflichen Umgebungen so zu ändern, dass das, was sie so gut konnte, bestmöglich aufgeho­ben war. Diese Entwicklung spiegelt sich in später aufgezeichneten Daten auf der ersten Ebene der Progressions­ana­lyse (s. o., Teil 3.1): in Dokumenten zu erzielten Erfolgen im Berufsfeld (Bsp. 8 und 9). Diese Dokumente illustrieren, dass sich MD im Journalismus an ei­nen Ort bewegt hat, wo ihr lineares und präzises Erzähl- und Pro­duk­ti­ons­muster ideal passt.

Die Berner Stiftung für Radio und Fernsehen verleiht in diesem Jahr ihren Hauptpreis der Fernsehjournalistin M[…]D[…]. Ausgezeichnet wird sie für einen Beitrag über den Mord am jüdischen Viehhändler Arthur Bloch 1942 in Payerne.

Abb. 8: Auszug medienjournalistischer Berichterstattung 2010.

http://www.derbund.ch/bern/nachrichten/Jacques-Chessex-indirekt-geehrt/story/16446536


 

Gegen die Zwangsheirat: die Afghanin Sonita rappt sich frei | Ihr Schicksal war vorbestimmt, wie das unzähliger anderer afghanischer Mädchen: Sonita soll von ihrer Familie als Braut verkauft werden – für 9000 Dollar. Doch sie wehrt sich – mit Musik. Ihr Rapsong, mit dem sie die Zwangsverheiratung junger Afghaninnen anprangert, macht Furore und ebnet ihr den Weg in die Freiheit. Heute studiert Sonita in den USA, von wo aus sie für Frauenrechte kämpft. Ihre unglaubliche Lebensgeschichte wird nun in einem berührenden Dokumentarfilm erzählt.

Abb. 9: Auszug medienjournalistischer Berichterstattung 2016.

http://www.srf.ch/sendungen/kulturplatz/allein

Statt also sich den Entwicklungen im Lesejournalismus anzupassen und immer beiläufiger zu schreiben, passte MD die Medienum­ge­bung ihrem Talent an. Sie bewegte sich vom Schrift- zum Bewegt­bild­medium, wo komplexe gesellschaftliche Probleme mittels multi­mo­daler linearer Narration begreifbar gemacht werden. Überspitzt gesagt: MDs Laufbahn verläuft wie ihre Schreibprozesse: linear. Die Linearität des Schreibens skaliert damit vom kleinen Zeitrahmen des einzelnen Medienbeitrags auf den großen Zeitrahmen der ganzen Berufsbiografie. Solche Skalierungen zeigen sich in anderen Fällen ebenso. Die Forschungsfrage, unter welchen Bedingungen der Zu­sam­menhang auftritt, bleibt aber noch zu untersuchen.

5 Fazit: Was Weitblick und Präzision begünstigen

Schreiben ist in den letzten zwei Jahrzehnten also beiläufiger gewor­den: dialogischer, multimodaler, aber auch fragmentarischer. Man schreibt immer und überall in kleinsten Häppchen. Dies erleichtert die Synchronisation mit Gemeinschaften, erschwert aber die fun­dier­te Auseinandersetzung mit dem Gegenstand. Eine solche Ent­wick­lung macht vor Domänen wie dem Journalismus, wo haupt­be­ruflich geschrieben wird, nicht halt. Folgen sind hier eine breitere Mög­lichkeit – und ein stärkerer Zwang – zu unablässiger metakom­munikativer Bewirtschaftung journalistischer Beiträge durch die Re­dak­tionen, meist durch die JournalistInnen selbst. Soweit die nicht überraschenden Befunde zur Veränderung des Schreibens in der Domäne.

Weniger auf der Hand liegen die hier umrissenen Befunde zu den Konstanten innerhalb dieses Gleichgewichts im Wandel. Zu diesen Konstanten zählen die Tätigkeitsfelder und Kontexte journa­lis­tischer Schreibpraktiken. Das Repertoire der Möglichkeiten bleibt kon­stant; was sich verlagert, ist die Gewichtung, hier eben von Prak­ti­ken fokussierten Schreibens zu Praktiken beiläufigen Schreibens. Damit ist auch gesagt, dass das Alte weiterbesteht, wenn auch neu in Ni­schen. Dies passt zur Erfahrung der Medienentwicklung, dass, nach dem Riepl’schen „Grundsatz der Entwicklung des Nachrich­ten­wesens“ (Riepl 1913: 5), viele neue Medien (wie Onlinespiele als Spu­ren von Gamification) die alten (wie Informationstexte) nicht vollständig ablösen, sondern eben in neue Nischen verweisen.

Aus dieser Perspektive erscheint es verständlich, dass Positive De­viants wie MD Erfolg haben am Markt, obwohl oder gerade weil sie bei dem bleiben, was sie besonders gut können – hier: beim kon­sequent fokussierten Schreiben. Für die Journalistenausbildung heißt das: Die großflächige Bewegung vom fokussierten zum bei­läu­figen Schreiben verlangt andere Eintrittskompetenzen und ruft nach Förderung anderer Zielkompetenzen, nämlich eben, Texte multi­modal aufzubereiten und sozial zu bewirtschaften. Gerade weil sich die Masse in diese Richtung bewegt, öffnen sich aber Nischen für Talen­te fokussierten, linearen Schreibens zur Herstellung multimo­da­ler Texte. Solche Talente sind, neben dem und gegen den Zeit­geist, zu erkennen und zu fördern.

Soweit die Erkenntnis auf der Objektebene der Forschung. Auf der Metaebene hat sich gezeigt: Medienlinguistik, die praktisch und theoretisch wesentliche Beiträge leisten will, schafft dies leichter, wenn sie Breite mit Tiefe verbindet. Während es für breit angelegte Befragungen reichen kann, den Gegenstand von außen her anzu­gehen, verlangt Forschungstiefe die Beteiligung der Beforschten von Anfang an: Erstens kann nur so das ExpertInnenwissen der Unter­suchten mit eingebunden werden, und zweitens bedingt die Inti­mi­tät der Forschungssituation eine tiefgreifende Zusammen­ar­beit. In die Schreibprozesse blicken lässt sich nur, wer die Forschung, die da läuft, versteht und mitträgt und sich davon einen Nutzen verspricht.

Transdisziplinäre Zusammenarbeit ist aber aufwändig. Wo Ex­pert­Innen unterschiedlicher wissenschaftlicher und berufsprak­tischer Fächer zusammenarbeiten, über die Grenzen ihrer Institu­tionen, Fächer und Domänen hinweg, sind zuerst Sprachen zu ent­wickeln, die den Gegenstand für alle Anspruchsgruppen benenn- und erkennbar machen. Im Fall des Schreibens bedeutet dies zum Beispiel ein gemeinsam geteiltes Verständnis von Kernbegriffen wie Praktik und gemeinsam geschärfte und nutzbare Werkzeuge wie die Progressionsgrafik. Für diesen Mehreinsatz lockt ein Mehrgewinn: Die Wissenschaft gewinnt an empirischer Sättigung von Theorien mittlerer Reichweite, die Praxis an handlungsleitender Einsicht über den Modetrend hinaus.

„Irgendwie bin ich immer am Schreiben“ – einer Medien­lin­gu­is­tik, die dieses Irgendwie mehr als bloß „irgendwie“ erklären will, kann das nur recht sein.

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[1]     AILA (2019). What is AILA, from http://www.aila.info/about/index.htm

[2]    Siehe https://dartmouthwritinginstitute.wordpress.com/plenary-speakers/