Vol 3 (2020), No 1: 1–6

DOI: 10.21248/jfml.2020.24

Rezension

Burwitz-Melzer, Eva/Riemer, Claudia/Schmelter, Lars (2019) (Hg.): Das Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen im digitalen Wandel. Arbeitspapiere der 39. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr Francke Attempto (Gießener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). 313 Seiten.
68,00 €  ISBN: 978-3-8233-8325-3

Peter Schildhauer

Der vorliegende Sammelband präsentiert die Ergebnisse der 39. Früh­jahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunter­richts. Nach Inklusion (Burwitz-Melzer et al. 2017) widmet sich der aktuelle Band mit dem digitalen Wandel einem weiteren Kernthema der Gegenwart. Dem Konzept dieser Reihe folgend, wurden die 26 Beiträger*innen gebe­ten, zu Leitfragen Stellung zu nehmen. Diese werden von den Herausgeber*innen in einem Vor­wort vorgestellt und betreffen:

(1)    Herausforderungen und Potenziale hinsichtlich der Gegen­stände, Lernumgebungen, Medien und Lehr-/Lernprozesse,

(2)   ein Leitbild digitalen Lehrens und Lernens,

(3)   konzeptionelle Änderungen und Forschungszugänge,

(4)   Priorisierungen im schulischen Unterricht sowie in der Leh­rer*innenbildung angesichts einer wachsenden Schere der Po­tenziale, Ansprüche und faktischen Gegebenheiten.

Die Antworten auf diese Leitfragen machen den Band zu einem Kaleidoskop an Perspektiven auf den Gegenstand, das die Heraus­gebenden wohl bewusst nicht in thema­tische Sektionen, sondern alphabetisch geordnet haben. Anstelle einer detaillierten Be­sprech­ung der einzelnen Beiträge möchte ich hier einige Themen und Tendenzen herausarbeiten, die den Band durchziehen.

Der Band zeugt von einer grundsätzlichen Kontroverse hinsicht­lich der Bedeutung der Digitalisierung für den Fremdsprachen­un­ter­richt. Während einige (Christian Fandrych und Lutz Küster) von einer grundlegenden Transformation ausgehen, argumentiert Britta Vie­brock, dass der digitale Wandel sich vor allem in einer Aus­wei­tung der Gegenstände des Fremdsprachenunterrichts zeige (z. B. digitale kommu­ni­ka­tive Prak­tiken), dass diese Anpassungen an neue Themen aber nichts Außer­gewöhnliches sei. Friederike Klippel argumentiert ähnlich, aber dring­licher: Es erweitere sich das Pen­sum dessen, was gelernt wer­den müsse, damit die Lernenden später souverän kommuni­zieren könnten.

Demgegenüber setzen sich Andreas Grünewald, Claudia Rie­mer und Lars Schmelter jeweils mit der Frage auseinander, ob der Fremdsprachenunterricht ange­sichts von Software zur Volltext­übersetzung wie etwa deepL in Zukunft sogar obsolet werde. Rie­mer antizipiert eine Verschiebung der Zieldimensionen: weg vom Beherrschen sprachlicher Mittel hin zur interkulturellen kom­mu­nikativen Kompetenz, die auch in Zukunft nicht maschinell model­liert werden könne (ganz ähnlich: Eva Burwitz-Melzer, Hermann Funk, Grit Mehlhorn und Karen Schramm).

Auch andere Kompetenzbereiche werden auf mögliche Trans­for­mationen geprüft: z. B. literarische Kompetenz (Carola Sur­kamp), Schreiben (Andreas Guder zum Erwerb der chinesischen Schrift­sprache) und Medienkompetenz (Mehlhorn). Andere, z. B. Hé­lène Martinez, Henning Rossa und Nicola Würffel, argumen­tieren jeweils auf der Ebene di­daktischer Prinzipien: Der digitale Wandel erfordere die konse­quente Umsetzung von Grund­sätzen wie Handlungs­orien­tier­ung, Lerner*innenzentrierung und Inter­aktion.

Bemerkenswert bei vielen konzeptionellen Überlegungen ist, dass nur drei Beiträge den Begriff der Digitalisierung explizit zu klä­ren versuchen. Surkamp tut dies auf Basis der sechs Ebenen der Digitalisierung nach Hallet (2018); Viebrock benennt, etwas weni­ger trennscharf, vier Ebenen. Küster setzt Veränderungen der Tech­no­logien zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel in Bezieh­ung.

Nahezu alle Beiträge betonen die Bedeutung kritisch-reflexiver Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien. Im Hinblick auf Schü­ler*innen im Fremdsprachenunterricht wird diesbezüglich insbesondere der Be­schäf­tigung mit (digitaler) Literatur (bzw. mit Literatur, die das Digi­tale thematisiert) ein hohes Potenzial zuge­schrieben (z .B. von Christiane Lütge und Surkamp). Um diese Kom­petenz auch für (angehen­de) Lehrer*innen auszubilden, raten einige Beiträger*innen, z. B. Martinez, zu ei­nem Drei­schritt aus Theorie – Handeln – Reflexion, wobei digitale Medien Thema und Instrument zugleich sein sollten. Klippel er­innert daran, dass „tea­chers teach as they were taught, and not as they are taught to teach“ (111). Es reiche somit nicht aus, theoretisches Wissen zur Verwen­dung digitaler Medien im Fremdsprachenunterricht zu ver­mitteln – der sinnvolle und reflektierte Gebrauch digitaler Me­dien müsse auch in der Lehre vorgelebt werden. Andere empfehlen das Befor­schen des eigenen Unterrichts (i. S. v. Aktionsforschung, z. B. Mar­cus Bär, Mark Bechtel, Mehlhorn, Julia Settinieri). Dabei warnt aber Birgit Schäd­lich, dass einfache Vergleiche der Art analoge vs. digitale Bear­bei­tung einer Aufgabe aufgrund der Fak­toren­komple­xität im Klassen­raum nicht sinnvoll erscheinen (vgl. 210); Schädlich rät demgegenüber zu quali­tativ-be­schrei­benden Ver­fahren wie ei­ner rekonstruktiven Inter­ak­tions­analyse.

Funk, Jürgen Kurtz, Nicole Marx und Rossa werfen jeweils (u. a.) einen kritischen Blick auf Unterrichtsmaterialien, ins­beson­dere das Lehrwerk als Leitmedium, und schlussfolgern, dass i. d. R. traditio­nelle Szenarien im neuen Gewand darge­boten werden (z. B. Arbeits­blätter mit gap-filling-Übungen als PDF-Datei­en). Marx ar­gu­men­tiert, dass DaF-Lehrwerke zwar digitale Text­sorten in Schrei­b­aufträge einbauen, jedoch ohne deren jeweilige Spe­zi­fika einzu­beziehen, mehr noch: Sie dienen lediglich als Deck­mantel ei­gent­lich didaktischer Textsorten wie Bericht oder Aufsatz. Dani­ela Elsner stellt daher auch folgerichtig fest, dass die Konzeption von Lernauf­gaben im Zeichen der Digitalität nicht den Verlagen über­las­sen wer­den dür­fe.

Die Potentiale digitaler Medien bezüglich des Umgangs mit Ler­ner*innendiversität werden ebenfalls von einigen Beiträgen ins Zen­trum gerückt. Torben Schmidt zeigt an laufenden Projekten, wel­che Möglichkeiten die Kooperation mit Computerlinguist*innen u. a. durch den Einbezug von KI hinsichtlich der Binnendifferen­zier­ung bietet. Karin Vogt ergänzt diese Perspektive um die Prinzi­pien Auf­ga­ben­orientierung und Arbeit am gemeinsamen Gegenstand (nach Feuser 2011), mit einem Blick (auch) auf im engeren Sinne in­klusive Lern­gruppen. Settinieri komplettiert das Bild mit Ausfüh­rungen zur digital gestützten Sprachdiagnostik.

Im Hinblick auf die Forschungsdesiderate und angesichts der ak­tuellen Wandelprozesse ist ein Ruf nach Syste­matisierung zu ver­neh­men – sowohl hin­sicht­lich der verfügbaren Tools und ihrer Af­for­danzen (Mehl­horn), als auch bezüglich möglicher Aufgaben­ty­pen (Martinez). Sowohl Klippel, als auch Schmidt sprechen sich für inter­disziplinäre Vorhaben aus.

Gerade diese geforderte Interdisziplinarität leben einige Beiträge in diesem Band bereits vor. Sie zeugen davon, dass sich die Fremd­sprachendidaktik dem mediendidaktischen Diskurs zur Bildung un­ter den Bedingungen der Digitalität öffnet, bspw. durch Bezug­nah­men auf Krommers (2018) Kritik am Mantra Pädagogik vor Tech­nik, das u. a. verkennt, „wie sehr der pädagogische Handlungs- und Ent­scheidungsspielraum durch die vorhandene Technik mitbe­stimmt wird“ (in diesem Sinne u. a. Bär, Rossa und Würf­fel).

Kritisch sehe ich jedoch den interdisziplinären Import in Bezug auf das SAMR-Modell (vgl. Puentedura 2006), das in zahlreichen Beiträ­gen als Startpunkt konzeptioneller Überlegungen genutzt wird (kritisch aber Bär). Das Akronym beschreibt verschiedene Stufen des Technologieeinsatzes in der Lehre: Substitution (Technologie ersetzt Herkömmliches ohne funktionale Änderung), Augmentation (funktionale Verbesserung), Modification (bedeutende Veränderung des task-designs), Redefinition (neue, vorher nicht vorstellbare Auf­gaben). Meine Kritik begründet sich wie folgt:

(1)    Das Modell präsupponiert technologielose Szenarien, dabei sind Medien schon immer Teil des Unterrichts: Tafel und Krei­de sind ja auch ‚Technologien‘ der Zeichenübertragung.

(2)   Die Annahme, ein kommunikativer Akt (z. B. ein Arbeitsblatt) könne von einer Kommunikationsform (Papier) in eine an­dere (PDF-Datei) ohne funktionale Veränderungen über­tra­gen werden, ist nicht haltbar: Andere Kommunikations­for­men zeichnen sich durch andere Affordanzen aus, und sei es nur der veränderte Lesemodus für digitale Darbietungen.

(3)   Bär bemerkt zurecht, dass die dem Modell inhärente Bot­schaft ‚höhere Stufe = bessere Lehre‘ zu kurz greift. So ver­stellt das Modell m. E. den Blick auf hybride Lehr-Lern-Sze­narien, bei denen analoge und digitale Medien ihre jewei­ligen Stärken ausspielen. So könnte in manchen Lern­gruppen be­wusst darauf verzichtet werden, zentrale Ergebnisse einer ar­beitsteiligen Online-Recherche ebenfalls online zu sam­meln (z. B. in einem Padlet) – bspw. zugunsten eines gemein­samen Clusterns am Whiteboard, zu dem die Lernenden auch ein­mal vom Platz aufstehen können und in Bewegung kom­men. Auch das klassisch-analoge Produkt ‚Poster‘ ist prak­tischer für Verfahren wie den kommunikativen ‚Gallery Walk‘ als di­gi­tale Darstellungsformen; die Arbeit an den ana­logen Pro­duk­ten könnte aber natürlich durch individuell ab­ruf­bare di­gitale Unterstützungsangebote (Erklärvideos, On­line-Wör­ter­bücher etc.) angereichert werden.

(4)   Die einzelnen Kategorien sind nicht klar definiert: Was be­deutet z. B. „significant task redesign“ (Pentedura 2006, 2)? Eine Ausarbeitung des Mo­dells, die akademischen Standards genügt, steht bisher aus. Dies macht das Modell als Heuristik weitgehend un­brauch­bar.

Insbesondere Leitbilder sollten aus diesen Gründen nicht auf dem –augenscheinlich eleganten – SAMR-Modell fußen, sondern elabo­rier­tere Modelle zum Ausgangspunkt nehmen, z. B. von Fadel et al. (2015), die Lehr-Lernszenarien von Zieldimensionen und nicht pri­mär vom Medienwechsel her denken.

Zudem sollten stärker noch als in der Mehrzahl der vorliegenden Beiträge Erkenntnisse der Medienlinguistik herangezogen werden. Hierzu nur drei Beispiele:

(1)    Nicht nur, aber auch für die Konzeption linguistisch, kulturell und funktional authentischer Schreib- und Sprechaufgaben (ein Desiderat, das z. B. von Marxʼ Beitrag abgeleitet werden kann) sind medien(kultur)linguistische Wissens­be­stände zu digitalen Sprachhandlungsmustern essentiell. Sie kontu­rie­ren, was Vlogs, Tweets und anderes ‚ausmacht‘, so­dass diese Formen des Sprachgebrauchs im Unterricht re­flektiert bzw. nachempfunden werden können. Damit kön­nten, entspre­chend Klippels Forderung, Schüler*innen ler­nen, auch digi­tal souverän zu kommunizieren.

(2)   Auf Ebene der Sprachbewusstheit trägt die Medienlinguistik dazu bei, zu verstehen, wie „media play their part in shaping utterances from the very beginning“ (Luginbühl 2015, 14). Im Übrigen stellt dies auch einen wesentlichen Reflexionsanlass für Lehrer*innen bezüglich des Medieneinsatzes im Unter­richt dar.

(3)   Zudem sind Erkenntnisse zu Handlungsformen wie bspw.  dem ‚Cybermobbing‘ (Marx 2017) unmittelbar relevant, um das von vielen Beiträger*innen im vorliegenden Band gefor­derte Lernziel der kritisch-reflektierten Mediennutzung zu unterstützen.

Doch auch innerfachlich bleibt noch Einiges zu schärfen: Während sich z. B. viele Beiträge des Bandes auf Authentizität berufen (Ver­fügbarkeit authentischer Materialien), ela­bo­riert nur Martinez das Konzept auf Basis der von Bünd­gens-Kosten (2013) vorge­schlagenen Ebenen linguistic, cultu­ral und functional authenticity.

Ungeachtet dieser kritischen Anmerkungen spricht das Kalei­do­skop der 26 Beiträge zusammengenommen m. E. alle Aspekte an, die für die konzeptionelle Weiterarbeit der nächsten Jahre relevant sein werden. Damit bietet der Band eine in­spirierende und lesenswerte Momentaufnahme einer Disziplin, die sich auf­macht, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten – ganz nach dem von Elsner zitierten Motto: „drive the change or it will drive you“ (54).

Literatur

Bündgens-Kosten, Judith (2013): Authenticity in CALL: three do­mains of realness. In: ReCALL 25 (2), 272–285.

Burwitz-Melzer, Eva/Königs, Frank G./Riemer, Claudia/Schmelter, Lars (Hg.) (2017): Inklusion, Diversität und das Lehren und Ler­nen fremder Sprachen. Arbeitspapiere der 37. Frühjahrs­kon­ferenz zur Erforschung des Fremdsprachen­unterrichts. Tübin­gen: Narr Francke Attempto.

Fadel, Charles/Byalik, Maya/Trilling, Bernie (2015): Four-Dimen­sio­nal Education. The Competences Learners Need to Succeed. Bos­ton: Center for Curriculum Redesign.

Feuser, Georg (2011): Entwicklungslogische Didaktik. In: Kaiser, Astrid/Schmetz, Dietmar/Wachtel, Peter/Werner, Birgit (Hg): Di­dak­tik und Unterricht. Enzyklopädisches Handbuch der Behin­dertenpädagogik. Stuttgart: Kohlhammer, 86–100.

Hallet, Wolfgang (2018): Ebenen der Digitalisierung. In: Surkamp, Carola/Khuen, Yvonne (Hg.): Digitalisierung im Englisch­unter­richt. Stuttgart: Klett (Klett Akademie für Fremdsprachen­didak­tik). URL: https://www.klett.de/inhalt/digitalisierung-im-englischunterricht/ebenen-der-digitalisierung/6443.

Krommer, Axel (2018): Warum der Grundsatz „Pädagogik vor Technik“ bestenfalls trivial ist. In: Bildung unter Bedingungen der Digitalität. Argumente – Gedanken – Notizen (Pub.: 16.04.2018). URL: https://axelkrommer.com/2018/04/16/warum-der-grundsatz-paedagogik-vor-technik-bestenfalls-trivial-ist/.

Luginühl, Martin (2015): Media Linguistics: On Mediality and Cul­turality. In: 10plus1: Living Linguistics 1, 9–26.

Marx, Konstanze (2017): Diskursphänomen Cybermobbing. Ein in­ter­net­linguistischer Zugang zu [digitaler] Gewalt. Berlin/New York: de Gruyter.

Puentedura, Ruben (2006): Transformation, Technology and Edu­cation. URL: http://www.hippasus.com/resources/tte/puentedura_tte.pdf.