Vol 3 (2020), No 1: 46–50
DOI: 10.21248/jfml.2020.40
Rezension
Beißwenger, Michael/Pappert, Steffen (2019): Handeln mit Emojis: Grundriss einer Linguistik kleiner Bildzeichen in der WhatsApp-Kommunikation. Erstausgabe. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr. 29,95€ ISBN 978-3-95605-069-5
Texte werden heutzutage digital produziert und rezipiert. Selbst direkte Kommunikation innerhalb kleiner Gruppen geschieht häufig über internetbasierte Kanäle, wie die von Michael Beißwenger und Steffen Pappert (im Folgenden: BP) analysierten WhatsApp-Diskussionen. Aus der internetbasierten Kommunikation wiederum sind die Emojis, das Thema dieses Buches, im Prinzip in allen Kontexten nicht mehr wegzudenken. Das vorliegende Buch liefert tiefgehende Einsichten in die Funktionen dieser „kleinen Bildzeichen“ in der Kommunikation, sowie ihr Verhältnis zu sprachlichen Ausdrücken, mit denen die Autoren die Emojis im Kontrast sehen. Die pragmatische Grundfrage ist, was die hohe Nutzungsfrequenz von Emojis in WhatsApp-Nachrichten und anderen Medien erklärt. Die Antwort liegt für BP ganz klar in ihrer bildhaften Form, die einerseits zu einer großen visuellen Salienz von Emojis und andererseits zur pragmatischen Rahmung der sprachlichen Nachricht führt. Aus diesen zwei Eigenschaften leiten die Autoren später die Funktionen und Verwendungspraktiken von Emojis ab.
BP starten mit einem Überblick über die existierende linguistische Literatur zu Emojis (Kapitel 2), und setzen Emojis dabei in Verbindung mit ihrem historischen Vorgänger, den Emoticons. Bei der Zusammenfassung des Forschungsstands stehen mögliche Kategorisierungen der Funktionen von Emojis/Emoticons im Mittelpunkt. BP zeigen, dass beide nicht immer mit Bezug auf Gefühle verwendet werden, und dass Emojis nicht ausschließlich ikonische Funktionen haben (die ihnen zunächst hauptsächlich zugeschrieben wurden). Stattdessen finden sich vielfältige, oft überlappende Typen von Emojis in der Literatur, unter anderem auch mit strukturierender oder Sprechakt-bezogener Funktion. Die Diskussion konzentriert sich auf den deutschsprachigen Raum, so dass einige alternative Vorschläge für die linguistische Analyse von Emojis nicht berücksichtigt werden. Zum Beispiel wäre eine Auseinandersetzung der Autoren mit der Interpretation von Emojis als Entsprechungen von Gesten (vgl. Gawne/McCulloch 2019) sicher fruchtbar für die Aussagen des Buches gewesen. Ebenso bleibt eine große Menge quantitativer und computationeller Zugänge zur Emoji-Bedeutung und -Funktion außen vor, da sich die Autoren auf Studien mit pragmatischer Perspektive beschränken (vgl. 11). Im Folgenden entwickeln die Autoren ihren Vorschlag zu den Emoji-Funktionen hauptsächlich aus den eigenen Vorarbeiten (vgl. Pappert 2017; Beißwenger/Pappert 2019a, b) weiter.
BP verfolgen in ihrer Analyse einen empirischen Ansatz, durch explizite Diskussion einer Großzahl von natürlich auftretenden Beispielen aus der WhatsApp-Datenbank MoCoDa2. Diese Datenbank wird in Kapitel 3 äußerst kurz vorgestellt und ist anderswo genauer beschrieben. Sie macht (Stand: 2019) 323 Chats öffentlich einseh- und durchsuchbar, aus denen auch die Beispiele des vorliegenden Buches entnommen sind.
Anhand ihrer empirischen und theoretischen Überlegungen begründen BP einen umfassenden, klar strukturierten Vorschlag für die Bedeutung von Emojis in der internetbasierten Kommunikation (Kapitel 4). Sie erkennen zwei klare Hauptfunktionen, die sich aus oben genannten Eigenschaften der Emojis ergeben. Die Autoren betrachten dabei die internetbasierte Kommunikation als eigene Art sprachlichen Handelns, parallel zum geschriebenen Text und der direkten Interaktion (vgl. 40). Unter dieser Sichtweise sind Emojis ganz klar eigenständiger Teil dieses sprachlichen Handelns, und ihre pragmatischen Potenziale werden nicht in Relation zu anderen sprachlichen Mitteln diskutiert (wie das zum Beispiel bei Gawne/ McCulloch 2019 der Fall ist), sondern direkt für die Emojis aus deren semiotischen Qualitäten abgeleitet. Emojis seien visuell salient und damit unmittelbar (noch vor anderem sprachlichen Material) interpretierbar (vgl. 63) und könnten strukturierend wirken (vgl. 64). Gleichzeitig sei zentrale Eigenschaft der Emojis, dass diese eine Rahmung vornehmen, also im Sinne von Goffman (1977) verstehbar machen, was in einer Kommunikationssituation vorgeht: nämlich, dass es sich um eine Nähesituation unter ungefähr gleichberechtigten Kommunikationsteilnehmer*innen handelt (vgl. 66). BP identifizieren so als die zwei Grundfunktionen der Emojis das Lesbarmachen und das Sichtbarmachen. Unter Lesbarmachen (vgl. 71) verstehen sie Emojiverwendungen, die Kontext konstituieren und Einstellungen oder Intentionen erst für die Adressat*innen erkennbar machen, zum Beispiel durch hier eingeführte „kalkulierte Inkonsistenz“ (vgl. 72). Diese Art von Emojis ist daher mit dem Rest der Textnachricht nie redundant. Eine redundante oder illustrative Verwendung von Emojis fällt dagegen unter das Sichtbarmachen (vgl. 73), das Beziehungsarbeit ausführt, indem sprachliche Nachrichten anschaulich oder sozialverträglich gestaltet werden. Ebenfalls unter diese Grobfunktion fallen Praktiken des Face Work (vgl. 74; Goffman 1967). Diese zwei Funktionen, argumentieren die Autoren überzeugend, können jedoch nur im Kontext des gesamten Verlaufsprotokolls einer WhatsApp-Kommunikation zugewiesen werden. So seien die Interpretationen den Emojis nicht immanent, sondern hängen vom Kontext ab, zum Beispiel von der Verwendung anderer Emojis im vorhergehenden Diskurs oder der Relation der Konversationsteilnehmer*innen zueinander. Die Einführung des Analysevorschlags wird daher durch eine umfangreiche Detailstudie eines längeren WhatsApp-Diskurses („Hochzeitstag“) abgeschlossen.
Im fünften Kapitel versuchen BP dann eine systematische Darstellung der verschiedenen Praktiken der Emoji-Verwendung unter den zwei Grundfunktionen Lesbarmachen und Sichtbarmachen. Auch hier werden die einzelnen Praktiken gut begründet und anhand zahlreicher natürlich auftretender Einzelbeispiele aus dem umfangreichen Datenbestand erklärt. Aufmerksame Leser*innen werden aus diesem Kapitel viel für die eigene linguistische Arbeit mit Emojis mitnehmen, da die Organisationsstruktur sehr klar ist, und sich so viele in der existierenden Literatur identifizierte Einzelfunktionen hier kohärent einordnen und analysieren lassen. So finden sich hier Emoji-Praktiken wie die der Ausschmückung (vgl. 105), oder die Disambiguierung zwischen verschiedenen Lesarten einer ambigen Äußerung (vgl. 111), oder die Abschwächung und anderes Face Work (vgl. 126). Gleichzeitig werden die Emojis nun doch mit anderen sprachlichen Mitteln in Bezug gesetzt, so können sie situationsabhängig den Modalpartikeln entsprechen (vgl. 98) oder äquivalent zu additiven Konnektoren als Kohäsionsmittel wirken (vgl. 122), und letztlich sogar nicht-redundant Teile einer textuellen Äußerung ersetzen (vgl. 111–112). Insgesamt betrachten BP zwei Praktiken des Lesbarmachens: „Kalkulierte Inkonsistenz als Anweisung zur Suche nach dem Gemeinten“ (Abschnitt 5.1.1) und „Nichtredundante Markierung von Einstellungen als Präsentation von Innerlichkeit“ (5.1.2); sowie 7 Praktiken des Sichtbarmachens: „Kalkulierte Redundanz als ‚Ins-Bild-Setzen‘ der sprachlichen Äußerung“ (5.2.1), „Handeln ohne Sprache: ‚Ein Bild sagt mehr als tausend Worte‘“ (5.2.2), „Handlungen realisieren“ (5.2.2.1), „Referieren“ (5.2.2.2), „Vernetzen und Verknüpfen“ (5.2.2.3), „Die Beziehung zum Gegenüber thematisieren“ (5.2.2.4) und „Abschwächen als Mittel zur sozialverträglichen Organisation des sprachlichen Handelns“ (5.2.3). Alle Praktiken werden jeweils durch Korpusbeispiele illustriert.
Insgesamt liefern BP mit dem vorliegenden Buch einen exzellent strukturierten Ansatz zur Analyse von Emoji-Verwendungen in Textnachrichten, der zudem mit natürlichen Beispielen außerordentlich gut belegt ist. Die umfangreich illustrierte Darstellung des Analyserahmens ist zwar gut verständlich, hat aber zugleich den Nachteil, dass die Informationen nicht gesammelt verfügbar sind, so dass Nachnutzer*innen nicht auf eine Liste von Kriterien für die Zuweisung von Emoji-Praktiken zu einzelnen Verwendungen zurückgreifen können. Die empirische Fundierung des Werkes ließe außerdem eine quantitative Studie zur relativen Gewichtung der identifizierten pragmatischen Funktionen von Emojis zu, die ebenfalls hier nicht erfolgt. Eine solche Studie wäre anhand der verwendeten Datenbank MoCoDa2 durchführbar, und würde eine Evaluation der Abdeckung des Analyserahmens ermöglichen, sowie einige verbleibende Fragen beantworten, zum Beispiel inwiefern einzelne Emoji-Verwendungen parallel mehrere Praktiken realisieren können, und wie zentral die einzelnen Praktiken jeweils sind.
Dies spricht aber dem Buch in seiner vorliegenden Form nicht die große Signifikanz für die nachfolgende qualitative und korpusbasierte Erforschung von Emojis in der internetbasierten Kommunikation ab. Durch die Anschaulichkeit der Beispiele, mit denen theoretische Konzepte untermauert werden, hat das Buch außerdem einen großen Wert für die universitäre Lehre im deutschsprachigen Raum, in welche die linguistische Analyse von Emojis zunehmend Einzug findet. Es lädt geradezu zum Weiterforschen ein.
Literatur
Beißwenger, Michael/Pappert, Steffen (2019a): Face work mit Emojis. Was linguistische Analysen zum Verständnis sprachlichen Handelns in digitalen Lernumgebungen beitragen können. In: Beißwenger, Michael/Knopp, Matthias (Hg.): Soziale Medien in Schule und Hochschule: Linguistische, sprach- und mediendidaktische Perspektiven. Frankfurt/M.: Lang, 99–141.
Beißwenger, Michael/Pappert, Steffen (2019b): How to be polite with emojis: a pragmatic analysis of face work strategies in an online learning environment. In: European Journal for Applied Linguistics 7 (2), 225–253.
Gawne, Lauren/McCulloch, Gretchen (2019): Emoji as digital gestures. In: Language@Internet (17), Artikel 2. URL: https://www.languageatinternet.org/articles/2019/gawne.
Goffman, Erving (1967): Interaction Ritual: Essays on Face-to-Face Behavior. Garden City, NY: Anchor Books. Doubleday & Company, Inc.
Goffman, Erving (1977): Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Pappert, Steffen (2017): Zu kommunikativen Funktionen von Emojis in der WhatsApp-Kommunikation. In: Beißwenger, Michael (Hg.): Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation. Berlin/New York: de Gruyter, 175–211.