Vol 3 (2020), No 1: 51–56

DOI: 10.21248/jfml.2020.41

Rezension

Dürscheid, Christa/Schneider, Jan Georg (2019): Standardsprache und Variation. Tübingen: Narr (= narr STARTER). 96 Seiten. € 10,90 ISBN 978-3-8233-8268-3

Aleksandra Salamurović

Der vorliegende Band, im Umfang kompakt, dennoch inhaltsreich, soll als eine erste Annäherung an den Themenkomplex um Stan­dardsprache und Variation des Deutschen dienen. Die Zielgruppe sind laut Autor*innen Studierende der germanistischen Sprachwis­senschaft wie auch Schüler*innen in der gymnasialen Oberstufe. Dem Reihentitel nach („7 wichtige Punkte für einen erfolgreichen Start ins Thema“) werden die einzelnen Themen in sieben Kapiteln behandelt, gefolgt vom Literaturverzeichnis und einem Register.

Das erste Kapitel leitet das Thema mit einer einfach formu­lierten, dennoch komplexen Frage ein: Was ist Standardsprache? Entsprechend der einfachen Formulierung erwartet man auch eine möglichst klare Definition als Antwort. Die Antwort bzw. der Ver­such einer Definition (vgl. S. 9) offenbart bereits die gesamte Kom­plex­ität des Themas. Zum einen stellt sich hier die Aufgabe, konsti­tutive Elemente einer Standardsprache zu benennen (Medialität, Kontext, Gebrauch, Akteur*innen), zum anderen die Abgrenzung zu anderen Sprachformen vorzunehmen, die Teil einer jeden Sprache sind, wie etwa Dialekte, allgemeingültig und möglichst wertfrei erläutern. Des Weiteren steigt die Komplexität insofern, als dass gleich in diesem Kapitel die Existenz eines Standards in Frage ge­stellt wird, zu­mindest wenn es um die gesprochene Sprache geht (vgl. S. 10). Im ersten Kapitel werden weitere Aspekte dieses The­menkomplexes ange­rissen: Betrachtung des Sprachgebrauchs als ein bestimmtes Hand­lungsmuster, Bedeutung von kommunika­tiven Routinen und Nor­men für die erfolgreiche Kommunikation, Metho­den der Erfor­schung von verschiedenen sprachlichen Aus­prägungen sowie Wer­ke wie Grammatiken und Wörterbücher, in welchen diese Aus­prägungen festgehalten werden. Man begegnet Fach­begriffen wie Standardsprache, Hochdeutsch, Gebrauchsstan­dard, präskriptiv, Norm, Variation und Varietät; diese werden in den nachfolgenden Kapiteln ausführlicher erklärt und ins Verhältnis zu­einander gesetzt. In der beschriebenen Konzeptualisierung ist be­reits die grund­legende Positionierung der Autor*innen zu erkennen: Ihre Argu­mentation stützt sich auf eine deskriptive Herangehens­weise, die wiederum aus gebrauchsbasierten (korpusbasierten) Ana­lysen her­vorgeht und die kommunikative Funktion der Sprache in den Vor­dergrund rückt.

Im zweiten Kapitel wird die Bedeutung der Sprachgeschichte des Deutschen für die Standardisierung der Sprache diskutiert. Wie auch für andere Sprachen sind es auf Macht beruhende historische Aushandlungsprozesse, die die Standardisierung, d.h. die Auswahl einer Varietät (sei es diatopisch oder diastratisch) mit dem Ziel der überregionalen Geltung in Gang setzen und vorantreiben. Insgesamt bieten die Unterkapitel 2.1 und 2.2 einen guten Überblick über In­halte und Akteur*innen dieser jahrhundertelangen Prozesse. Darauf aufbauend erfolgt die Auseinandersetzung mit der Plurizentrik, die leider nicht in einem hervorgehobenen Info- bzw. Definitionskasten näher erläutert wird, wie es bei manchen anderen Fachtermini der Fall ist. Das Spannungsverhältnis zwischen linguistischen (welche Varietät wird geltend gemacht) und soziokulturellen (Staatsgrenzen, nationale Identität, Einheit oder Diversität) Faktoren spielt eine ent­scheidende Rolle bei dem Konzept des Plurizentrismus. Der Status des Deutschen als einer plurizentrischen Sprache wird oft als „Vor­bild“ für manche andere aufgeführt, wie etwa das ehemalige Serbo­kroatische, selbst nach dem Zerfall des gemeinsamen Staates und der Sprachgemeinschaft (vgl. Kordić 2010: 77). Die „Vorbild­funk­tion“ bezieht sich vor allem auf eine geringere Gewichtung der soziokulturellen Faktoren, allen voran der Bedeutung der Sprache für die symbolischen Grenzziehungen bei der Konstituierung einer nationalen Identität im deutschsprachigen Raum. Im Gegensatz da­zu, wird den soziokulturellen Faktoren in Südosteuropa eine über­mäßige Bedeutung zugesprochen. Eine solche Haltung, aus­geprägt und gefördert auch von Sprachwissenschaftler*innen, führt oft zu substanziellen Eingriffen in die Sprache selbst (Sprach­purismus, Sprachengineering etc.). Plurizentrismus ist häufiger an­zutreffen als vielleicht gedacht, auch in den „kleineren“ Sprachen, wie etwa im Albanischen, wo er aber aus politischen Gründen oft abgelehnt wird (vgl. Jusufi 2018). Im vorliegenden Band beziehen Dürscheid und Schneider den zentrumsfernen Sprachkontakt als einen wesent­lich­en Bestandteil des Standardisierungsprozesses ein, was zu Verlegung des Schwerpunktes von Plurizentrik auf Pluria­realität führt. Das Konzept der Pluriarealität, kann sich m. E. auch für andere Stan­dardsprachen als fruchtbar erweisen.

Das dritte Kapitel behandelt die Standardsprachideologien, einen offensichtlich unumgänglichen Begleiter einer jeden Stan­dardsprache, da die Sprache nicht isoliert besteht, sondern mit div­ersen sozialen und kulturellen Handlungsfeldern wie Politik, Ge­schichte, Kultur, Bildung etc. interagiert und diese legitimiert bzw. selbst von diesen legitimiert wird (vgl. Rosa/Burdick 2017, Aj­sic/ McGroarty 2015). Standardsprachideologien kann man als prä­skriptive Vorstellungen einer homogenen Standardsprache be­schreiben, die von Mitgliedern der Sprachgemeinschaft in ihrer „einheitlichen“, „korrekten“ Form zu gebrauchen ist. Bei Abweich­ungen „droht der Sprachverfall“ (S. 28) und/oder Diskriminierung bzw. soziale Isolierung (vgl. S. 31). Obwohl in diesem Kapitel eine krit­ische Position gegenüber den Standardsprachideologien deutlich artikuliert wird, lässt das Kapitel eine etwas tiefergehende Ausein­andersetzung mit den inner- und extralinguistischen Gründen hier­für vermissen, vor allem in Bezug auf Träger*innen dieser ideo­logischen Positionen. Eine generalisierende Unterscheidung zwi­schen den „populären Sprachkritiker*innen“ und den fast ideal­ty­pischen „Sprachwissenschaftler*innen“ (vgl. Infokasten S. 28), die klar konturierte entgegengesetzte Positionen vertreten, entbehrt der realen Grundlage (vgl. Diskussionen um den gendergerechten Sprachgebrauch oder Mehrsprachigkeit bei Personen mit Migra­tionshintergrund).

Im vierten Kapitel über geschriebenes und gesprochenes Deutsch wird endgültig die für diesen Band geltende Auffassung von Standardsprache als zum einen den Gebrauchsstandard, zum an­deren als die geschriebene „Leitvarietät“ (Anführungszeichen im Original) präsentiert und näher diskutiert. Auch wenn der Begriff „Leitvarietät“ selbst von den Autor*innen mit kritischem Blick[1] ver­wendet wird, überzeugt die Diskussion durch eine klar dynamische Konzeptualisierung der Standardsprache. Sie ist nämlich in beiden ihren Medialitäten, in der Schriftlichkeit und Mündlichkeit, dem ste­ten Wandel unterworfen, was sicherlich auch ihr konstantes Merk­mal ist. Diese Position wird mit vielen relevanten Beispielen belegt.

Das fünfte Kapitel widmet sich einem weiteren metalingu­is­tischen Phänomen, das die Standardisierung entscheidend prägt, nämlich dem Konzept der Normen. Die Autor*innen unterscheiden, in Anlehnung an Gloy (2004, 2012), zunächst zwischen den subsis­tenten, impliziten Normerwartungen, die eher unbewusst befolgt werden und den statuierten Normen, die in verschiedenen Kodizes (Grammatiken, Wörterbücher etc.) als teilweise präskriptive, obliga­torische Regeln gelten (vgl. S. 48 f.). Des Weiteren wird dieser Normen­begriff vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen System und Norm nach Coseriu (2007) weitergeführt, d. h. es wird unter­schieden zwischen dem, was in einer Sprache systemlin­gu­is­tisch möglich ist und was tatsächlich im Gebrauch realisiert wird. Durch die Berücksichtigung der systemischen auf der einen und der an­wendungsbasierten Perspektive auf der anderen Seite gelingt es den Autor*innen, die Bedeutung des Wandels, seine Potenziale aber auch Einschränkungen im Gegenwartsdeutschen argumentativ her­vorzuheben. Die theoretischen und epistemischen Überlegungen der Autor*innen werden an Beispielen aus der Grammatik (Status und Gebrauch von Genitivobjekt, Pluralbildung bei Substantiven, Ausklammerung in Syntax) und Orthographie (Kommasetzung, Schreibweise von bestimmten Fremdwörtern) veranschaulicht. Während die Grammatiken des Deutschen, auf welche die Autor*innen im Band Bezug nehmen (Duden-Grammatik und Vari­antengrammatik des Standarddeutschen) einen deskriptiven An­spruch haben (zu Duden-Grammatik S. 52, zu Variantengrammatik S. 78), ist die Orthographie der einzige Bereich des Sprachsystems, der präskriptiv geregelt ist. Allerdings räumen die Autor*innen ein, dass es selbst in der Orthographie Variation gibt. Dieser Bereich der Standardsprache wird zunehmend aus soziolinguistischer Pers­pektive in der Forschung unter die Lupe genommen, wie etwa im neuesten Sammelband von Androutsopoulos/Busch (2020). In den Worten der Autor*innen: „Das System einer Einzelsprache stellt somit verschiedene Möglichkeiten zur standardsprachlichen Reali­sierung bereit. Welche dieser Möglichkeiten jeweils benutzt wer­den, hängt nicht zuletzt von außersprachlichen Faktoren ab […]“ (S. 58).

Somit ist das sechste Kapitel bestens eingeleitet, das die für den Sprachgebrauch zentralen Begriffe behandelt: Variation, Varianten, Varietäten. Allerdings gestaltet sich eine klare definitorische Be­stimmung dieser Begriffe als komplex, was nicht zuletzt auf die Ent­wicklung der Soziolinguistik als einer Variationslinguistik zurück­geht. Diese Entwicklung wird im Kapitel kurz in ihren Hauptzügen angesprochen, angefangen mit Bernsteins Defizithypothese (vgl. S. 66) über Labovs bahnbrechende Arbeiten (vgl. S. 67 f.) und drei Wellen von Variationist Sociolingusitics (vgl. Eckert 2018, 69) bis hin zu auf Coseriusʼ Ansatz beruhende Ansichten von Koch/Oester­reicher (1994) über die Nähe/Distanz-Kontinuum in einer Varietä­tenkette (vgl. S. 70). Die Hauptbotschaft dieses Kapitels ist, dass Variation, unab­hängig davon, ob man den „Varietätenbegriff enger oder weiter fasst“, als „das Wesensmerkmal von Sprache“ (vgl. Info­kasten auf S. 65) betrachtet wird.

Im letzten, siebten Kapitel, widmen sich die Autor*innen der diatopischen Variation. Diese wird anhand der Untergliederung des deutschsprachigen Raums diskutiert und zwar vor dem Hintergrund der bereits erwähnten Plurizentrik bzw. Pluriarealität, in Bezug auf Grammatik (Morphologie und Syntax) und Lexik. Das siebte Kapitel endet mit dem Blick auf die Variation als einer spezifischen prag­matischen Ressource, die in kommunikativen Routinen eingesetzt wird. Aus den abschließenden Überlegungen zur (Un-)Möglichkeit von methodologischer Erfassung solcher pragmalinguistischer Vari­ation lässt sich das Plädoyer für eine Erweiterung der Variations­linguistik hin zur Variationspragmatik (vgl. S. 83 f.) ablesen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der vorliegende Band, trotz gebotener Kürze, sein Ziel völlig erreicht: Mit den inhalts­reichen Auseinandersetzungen und den Aufgaben am Ende eines jeden Kapitels ist ein erfolgreicher Start in das Thema Standard­sprache und Variation gewährleistet. Einige Unterthemen wie etwa jenes, das Sprachideologien zur deutschen Sprache betrifft, die von Sprachwissenschaftler*innen getragen und gefördert werden, ließen sich freilich ausführlicher und kritischer beleuchten. Der Band wür­de m. E. auch von einem kurzen Abschlusskapitel profitieren, da er etwas prompt mit den sehr konkreten methodologischen Über­le­gungen zur Variationspragmatik endet. Insgesamt regt der Band aber zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema an, was sicherlich auch über die avisierte Zielgruppe hinaus gilt. Nicht zuletzt sollte ge­sagt werden, dass, auch wenn sich das Werk auf die deutsche Spra­che und ihre sprachhistorische und soziolinguistische Entwicklung konzentriert, viele der dargelegten Überlegungen, vor allem metho­dologische und theoretische Herangehensweisen ebenso an ander­en Sprachen erprobt werden können. Auch darin ist die Relevanz dieser Einführung zu sehen.

Literatur

Ajsic, Adnan/McGroarty, Mary (2015): Mapping language ideolo­gies. In: Research methods in language policy and planning: A practical guide 5 (1), 181–192.

Androutsopoulos, Jannis/Busch, Florian (Hg.) (2020): Register des Graphischen. Variation, Interaktion und Reflexion in der digitalen Schriftlichkeit. Berlin/Boston: de Gruyter.

Coseriu, Eugenio (2007): Sprachkompetenz. Grundzüge der Theorie des Sprechens. 2. Aufl. (1. Aufl. 1988). Tübingen: Narr Francke Attempto.

Eckert, Penelope (2018): Meaning and Linguistic Variation: The Third Wave in Sociolinguistics. Cambridge: Cambridge Uni­ver­sity Press.

Gloy, Klaus (2004): Norm. In: Ammon, Ulrich/Dittmar, Norbert/ Mattheier, Klaus J./Trudgill, Peter (Hg.): Soziolinguistik. Band 1. Berlin/New York: de Gruyter, 392–399.

Gloy, Klaus (2012): Empirie des Nichtempirischen. Sprachnormen im Dreieck von Beschreibung, Konstitution und Evaluation. In: Günthner, Susanne/Imo, Wolfgang/Meer, Dorothee/Schneider Jan Georg (Hg.): Kommunikation und Öffentlichkeit: Sprachwis­senschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm. Berlin/ New York: de Gruyter, 23–40.

Jusufi, Lumnije (Hg.) (2018): The Potentiality of Pluricentrism. Albanian Case Studies and Beyond. Wiesbaden: Harrassowitz.

Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1994): Schriftlichkeit und Spra­che. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.): Schrift und Schrift­lichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler For­schung. 1. Halbband. Berlin/New York: de Gruyter, 587–604.

Kordić, Snježana (2010): Jezik i nacionalizam [Sprache und Natio­nalismus]. Zagreb: Durieux (Rotulus Universitas).

Rosa, Jonathan/Burdick, Christa (2017): Language Ideologies. In: García, Ofelia/Flores, Nelson/Spotti, Massimiliano (Hg.): The Ox­ford Handbook of Language and Society. Oxford, New York: Oxford University Press, 103–124.



[1]     Vgl. Aufgabe zu diesem Kapitel: „Diskutieren Sie in einer Gruppe, ob und inwie­weit man den geschriebenen Standard tatsächlich als „Leitvarietät“ betrachten kann.“ (S. 47)