Vol 4 (2021), No 1: 1–7
DOI: 10.21248/jfml.2021.42
Rezension
Beckers, Katrin/Wassermann, Marvin (Hg.) (2020): Wissenskommunikation im Web. Sprachwissenschaftliche Perspektiven und Analysen. Berlin u. a.: Peter Lang (Transferwissenschaften, 11). 274 Seiten. € 59,90 ISBN: 978-3-631-79902-4
Der vorliegende Sammelband versteht sich als Plattform für die Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik, um neuartige Strukturen der digitalen Wissenskommunikation zu beschreiben. Das Herausgebenden-Team Katrin Beckers und Marvin Wassermann stellt in der kurzen Einleitung (7–12) fest, dass der Wandel der Wissenskommunikation durch Digitalisierung – also die Möglichkeiten der Partizipation an Produktion, Distribution und Rezeption – gerade in der Linguistik noch zu wenig diskutiert ist.
Matthias Ballod und Gerd Antos (Wie Big Data den Wissensbegriff verändert. Datafizierungs-Diskurse als Gegenstand von Linguistik und Fachdidaktik, 13–36) fragen in ihrem Beitrag, welche Folgen Big Data für das Verständnis von Wissen und Kompetenz – und damit auch für die Wissenskommunikation – hat. Ist Big Data aufgrund der riesigen Fülle an verarbeiteten Informationen glaubwürdiger als klassisches, menschliches Wissen? Die Autoren geben hierauf keine eindeutige Antwort, greifen stattdessen den Diskurs um sprechende Sexpuppen auf – warum, bleibt ungewiss, zumal sich der Beitrag dann der Digitalisierung in Schule und Bildung zuwendet. Für Schüler*innen gehören digitale Endgeräte und soziale Medien zum Leben und Lernen dazu. Deshalb fordern die Autoren Medien- und Informationsdidaktik im schulischen Curriculum. Implikationen der Datafizierung für die Linguistik werden im Beitrag angedeutet, aber nicht benannt (vgl. z. B. Burel 2016). Es bleibt insbesondere aufgrund der Referenz auf Werke wie Schirrmacher (2009) der Eindruck einer gewissen Skepsis vor der Manipulation durch Künstliche Intelligenzen zurück.
Jan Engberg und Dorothee Heller (Rechtliches Wissen auf einer institutionellen Webseite – Eine Fallstudie zu sprach- und wissensorientierten Techniken der Popularisierung von Wissen im Netz, 37–63) untersuchen die Behördenkommunikation auf der Website des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, genauer: die Popularisierung von Rechtsinhalten für Geflüchtete auf Grundlage der Komplexitätsanalyse nach Niederhauser (1999). Dass es sich hierbei um Fachkommunikation und Verständlichkeitsforschung handelt, wird im Beitrag nicht benannt; auch fehlt der Hinweis, dass die Deutschkenntnisse der Zielgruppe(n) sehr unterschiedlich sein können, was für das Textverständnis überaus relevant ist. Die untersuchten Webseiten sind auf unterschiedlich stark detailliertes Regelwissen ausgerichtet, die Autor*innen bewerten die Umsetzung als „sinnvoll“ – interessant wäre hier eine Bewertung durch die Zielgruppe. Insgesamt fällt die Betrachtung des komplexen Zusammenspiels von Text, Bild, Webdesign usw. etwas oberflächlich aus.
Wolf-Andreas Liebert analysiert in seinem Beitrag Kooperatives Wissen. Wissensvermittlung in Online-Enzyklopädien (65–83) die Online-Projekte Encyclopædia Britannica, Nupedia, Wikipedia und Stanford Encyclopedia of Philosophy mit Blick auf die Bedeutung kollaborativer Wissensvermittlung auf Wissenschaft und Wissensbegriff. Der Zugang zur Produktion und Edition von Einträgen und damit die Expertise der Redaktion sowie die Möglichkeiten der allgemeinen Partizipation sind unterschiedlich stark reguliert, das Design unterschiedlich stark an bekannte Diskurstraditionen angelehnt. Der Autor nennt die inhaltliche Qualität der auf eine Expert* innenredaktion setzenden Projekten „sehr hoch“, das Design der Encyclopædia Britannica „ansprechend“ – nach welchen Maßstäben die Beurteilung erfolgt, bleibt offen. Die abschließende Forderung, Wissen durch Open Access zu teilen und auch zu systematisieren, ist nicht neu und letztlich der Grund, warum Projekte wie Wikipedia existieren.
Etwas aus der Zeit gefallen wirkt der Beitrag von Sonja Kleinke zu Wissenskommunikation in Internetforen (85–102). Klassische Foren werden bereits seit den 1990er Jahren zum Special-Interest-Austausch genutzt. Die Fragen der Autorin nach der verbalen Verhandlung von Wissen und der Positionierung von Nutzer*innen und ihrem Wissen im Diskurs sind in der Linguistik bereits gut erforscht, was Kleinke leider kaum aufzeigt. Die Analyse verschiedener Forentypen kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie bereits frühere Studien wie Schrader-Kniffki (2014) und Kunkel (2014): Nutzer*innen entwickeln diverse Strategien zur Selbstpositionierung von Expertise; traditionelle Expert*innen-Lai*innen-Kommunikation wird durch die Öffentlichkeit der Kommunikation aufgebrochen; auch nicht formal erworbene Expertise kann auf Akzeptanz stoßen.
WhatsApp-Chatgruppen als (zusätzlichen) Lernort von Deutsch als Zweitsprache für Geflüchtete untersuchen Marcel Fladrich und Nils Bahlo in ihrem Beitrag Grafische Verstehensdokumentation als Wissensspiegelung kommunikativer Praktiken in Refugee-Chats (103–118). Sie analysieren einen Gruppenchat mit syrischen Geflüchteten und ihren DaZ-Lehrern unter der Fragestellung, wie die Lernenden (Nicht-)Verstehen signalisieren, welchen kommunikativen Hürden sie begegnen und wie sie diese überwinden. Neben verbalen Nachfragen, Wiederholungen und Korrekturen werden insbesondere Emojis mit ihren ikonischen Gesichtsausdrücken häufig eingesetzt. Die dokumentierten Chats sind aus DaZ-Perspektive teils irritierend, sodass sich die Frage aufdrängt, warum ausgerechnet ein problematisches Fragment des Chats in dem Aufsatz überhaupt thematisiert wird und ob nicht eine Reflexion über die Professionalisierung von Lehrkräften im Umgang mit Chats als Lernmedium erfolgen sollte.
Matthias Meiler stellt in seinem Beitrag Offene Spielräume: wissenschaftliches Bloggen zwischen Kolloquium, Zeitschrift und Forschungstagebuch (119–140) verschiedene Praktiken der wissenschaftlichen Blogosphäre vor. Es finden sich heute vor allem Remediationen (nach Bolter/Grusin 2000) etablierter wissenschaftlicher Formate. In Blogs, die einem Kolloquium ähneln, gibt es einen fachlichen Input, Rückfragen und Kommentare werden an den*die Autor*in gerichtet. Jedoch wird mitunter wie in einer universitären Lehr-Lern-Situation auch erwartet, notwendiges Vorwissen bereitzustellen, was auf Tagungen weniger üblich ist. Ein weiteres Blogformat überträgt das Format „Wissenschaftlicher Aufsatz“ 1:1 in das Medium Blog – als Mehrwert wäre neben der freien öffentlichen Verfügbarkeit denkbar, dass langwierige Review-Prozesse und Publikationskosten umgangen, Wissen also schneller verfügbar gemacht werden kann, und dass in Kommentarspalten auch zeitnah ein Diskurs stattfindet. Ein drittes Blogformat ist, angelehnt an das Forschungstagebuch, projektbegleitendes Bloggen. Der Autor bezeichnet den Output für Lesende als häufig eher gering – es profitieren aber die Forschenden selbst, die im Schreibprozess Gedanken ordnen und sich eigenem Verstehen annähern. Der Beitrag stellt die unterschiedlichen Produktionszwecke und Rezeptionsziele von Wissenschaftsblogs dar – Überlegungen, die Forschende bei der Planung eines eigenen Blogs kennen und berücksichtigen sollten.
Thomas Niehr untersucht in seinem Beitrag Populistische Medienkritik im Netz. Erscheinungsweisen und Erklärungsversuche (141–161). Bereits in den 1960er Jahren seien etablierte Massenmedien für ihre Gatekeeper-Funktion kritisiert und eine „Gegenöffentlichkeit“ gefordert worden – damals eher von links. Im Internet können durch die vielfältigen Partizipationsmöglichkeiten alternative Informationskanäle entstehen, die jedoch nicht unbedingt die ersehnte Stärkung von Demokratie, Transparenz und Teilhabe bieten. Die Informationsqualität ist oft unsicher, Motivation und Kompetenz der Erstellenden unklar, Kontrollmechanismen inexistent. Unter den neuen Angeboten befinden sich auch solche, die populistische Medienkritik üben, indem sie die etablierten Medien als politisch vereinnahmte „Systemmedien“ diskreditieren (vgl. auch die Beiträge in Januschek/Reisigl 2014). Niehr zeigt anhand der Webseiten eva-herman.de und journalistenwatch.com, dass populistische Medienkritik vor allem über die Behauptung erfolgt, etablierte Medien würden wichtige Vorgänge im Namen der politischen Korrektheit und einer staatlichen oder lobbygeleiteten „Linie“ verschweigen oder falsch darstellen. Vermeintliche Wahrheiten bieten dann die alternativen Kanäle. Die Kritik ist meist sehr pauschal, die gebotenen Alternativen oft nah an Verschwörungserzählungen.
Mit einer ähnlichen Problematik beschäftigt sich der Beitrag Online-Wahlkampf im Zeitalter von Fake News von Jens Runkehl (163–179). Der Fokus liegt beim US-Wahlkampf 2016, der zwar nicht der erste war, in dem auch Online-Medien und -kanäle eine wichtige Rolle spielten, in dem aber eine bis dahin ungekannte Menge an „Fake News“ und Verschwörungserzählungen verbreitet wurden, und das nicht zuletzt mit Hilfe von Bots. Anders als der klassische Wahlkampf bieten Online-Kanäle virale Verbreitungseffekte, die durch Algorithmen und Bots ein Stück weit gesteuert werden können und dadurch die Meinungsbildung beeinflussen. Runkehl rekapituliert, wie Donald Trump 2016 intensiv klassische emotionalisierende Wahlkampfauftritte in Verbindung mit digitalen Verbreitungsmechanismen nutzte, wobei auch Fake News eine Rolle spielten. Da auch Wahlkämpfe in Europa zukünftig von digitalen Verzerrungen in der Meinungsbildung betroffen sein werden, bietet der Beitrag eine wichtige Vorlage für die Beschäftigung mit dem Thema auch im deutschen Kontext.
Die Didaktik von Online-Lern- und Wissensplattformen ist Thema des Beitrags von Christian Efing und Paweł Szerszeń (Berufliche und betriebliche Wissenskommunikation in digitalen Medien, 181–202). Sie analysieren die unternehmensinterne Wissensplattform von EDEKA, die Internetplattform Jasne für Fremdsprachen im Fahrzeug-/Maschinenbau, die Smartphone-App Ein Tag Deutsch in der Pflege und das an Lai*innen gerichtete Onlineportal Texsite über Mode. Zunächst stellt sich hier die Frage, unter welchen Gesichtspunkten diese vier Angebote ausgewählt wurden: Was leistet ein Vergleich von Wissenstransfer-Angeboten, die nicht nur medial sehr unterschiedlich aufgebaut sind, sondern auch thematisch weit voneinander entfernt sind und noch dazu ganz unterschiedliche Zielgruppen und Vermittlungsziele haben? Die Autoren stellen Aufbau, didaktischen Zuschnitt, Gestaltung etc. der Plattformen vor. Gemeinsam haben die Angebote die hypothetischen Vorteile von E-Learning-Formaten: Zeitersparnis, Zusammendenken von Arbeit und Weiterbildung, Interaktivität, räumliche und zeitliche Flexibilität sowie Praxisrelevanz. Den Autoren zufolge bleiben alle untersuchten Angebote aber weit unter den medialen Möglichkeiten, insbesondere Feedbackoptionen und interkulturelle Aspekte kommen zu kurz.
Michael Beißwenger und Lena Meyer stellen in ihrem Beitrag Gamification als Schlüssel zu „trockenen“ Themen? Beobachtungen und Analysen zu einem webbasierten Planspiel zur Förderung orthographischer Kompetenz (203–239) das Planspiel „Ortho & Graf“ vor, das an der Universität Duisburg-Essen entwickelt wurde, um Studierenden der Deutsch-Lehramtsstudiengänge einen motivierenden Zugang zum Thema Orthografie zu bieten. Im Spiel wechseln Online-Arbeitsphasen mit Präsenzphasen, in denen es auch inhaltlichen Input gibt, ab. Die Teams reichen in der 1. Phase orthografische Zweifelsfälle ein, recherchieren in der 2. Phase die darauf anzuwendenden Regeln und formulieren Begründungen, überprüfen in der 3. Phase die gelösten Fälle auf ihre Qualität. Für die aktive Teilnahme gibt es ein Anreizsystem virtueller Auszeichnungen. Die Evaluation des Spiels, das im Rahmen mehrerer Seminare durchgeführt wurde, zeigt, dass die Studierenden das Spiel mehrheitlich als motivierender empfanden als ein traditionelles Orthografie-Seminar. Sie gaben auch mehrheitlich einen Wissenszuwachs an. Für einige schaffte auch das Anreizsystem zusätzliche Motivation. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem Planspiel wird es überarbeitet und zukünftig auch für den Einsatz an der Schule angepasst. Interessant wäre noch, wie der festgestellten Problematik fehlender Orthografie- und Grammatikkenntnisse begegnet werden könnte: Gäbe es auch für das Auffrischen des Grundwissens spielerische Lösungen?
Einen sehr speziellen Bereich behandelt der Beitrag von Andreas Kraft, Kristina Pelikan und Thorsten Roelcke. Mit Didaktische Perspektiven auf Fachkommunikation via Twitter – Deutsch als medienorientierte Fremd- und Fachsprache (DamFF) (241–267) postulieren sie die Notwendigkeit eines Fremdsprachenunterrichts speziell für Personen, die Twitter als Medium für die Unternehmens(fach)kommunikation nutzen. Überraschend ist zunächst die Verwendung des Begriffs „Fachkommunikation“ als Oberbegriff für alle Arten von Unternehmenskommunikation (wobei die Autor*innen zwar auch anmerken, dass nicht alles in dem Bereich gleichzusetzen ist) – gerade Fachkommunikation ist jedoch recht klar definiert (vgl. z. B. Heidrich/Schubert 2020) und eigentlich nicht das, was Unternehmen in sozialen Medien betreiben. Auch stellt sich die Frage, ob Personen nicht-deutscher Erstsprache in den Social-Media-Abteilungen von Unternehmen überhaupt Verantwortung für deutschsprachige Kommunikation übernehmen können (oder ob diese dann nicht eher für ihre eigene Erstsprache oder Englisch zuständig sind). Die Forderung, einen spezifischen fachsprachlichen DaZ-Unterricht einzurichten, der zugleich eine Medienkompetenz bezüglich Twitter vermittelt, erscheint paradox, da Social-Media-Fachleute mutmaßlich den Umgang mit sozialen Medien beherrschen, wenn auch nicht in jeder Sprache. Von Interesse wäre deshalb eher die Frage, ob deutsche Unternehmenskommunikation in sozialen Medien so stark von anderen Sprachen oder Kulturräumen abweicht, dass hier kein Transfer möglich ist.
In der Gesamtschau finden sich im Band einige Rechtschreibfehler und fehlende Quellenangaben. Mehrere Beiträge in dem dezidiert als sprachwissenschaftlich bezeichneten Band sind medienwissenschaftlich ausgerichtet, eine linguistische Perspektive fehlt. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn das Herausgebenden-Team stärker auf eine sprachwissenschaftliche Anbindung Wert gelegt oder zumindest in der Einleitung eine entsprechende Klammer gesetzt hätte. So stehen die Beiträge doch relativ stark isoliert nebeneinander, können aber jeder für sich einen Ausgangspunkt für weitere Zugänge zum Thema Wissenskommunikation online bieten.
Literatur
Bolter, J. David/Grusin, Richard A. (2000): Remediation: Understanding New Media. Cambridge: MIT Press.
Burel, Simone (2016): Durch Big Data linguistische Informationsschätze heben. In: pressesprecher 3/16, 28–30.
Heidrich, Franziska/Schubert, Klaus (Hg.) (2020): Fachkommunikation – gelenkt, geregelt, optimiert. Hildesheim: Universitätsverlag. URL: https://dx.doi.org/10.18442/087.
Januschek, Franz/Reisigl, Martin (Hg.) (2014): Populismus in der digitalen Mediendemokratie. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr.
Kunkel, Melanie (2014): Impoliteness in the Negotiation of Expert Status: Folk Linguistic Debates in a French Online Forum. In: Bedijs, Kristina/Held, Gudrun/Maaß, Christiane (Hg.): Face Work and Social Media. Münster: LIT, 404–421. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:hil2-opus-2309.
Niederhauser, Jürg (1999): Wissenschaftssprache und populärwissenschaftliche Vermittlung. Tübingen: Narr.
Schirrmacher, Frank (2009): Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. München: Blessing.
Schrader-Kniffki, Martina (2014): Subject Emergence, Self-Presentation, and Epistemic Struggle in French Language Forums. In: Bedijs, Kristina/Held, Gudrun/Maaß, Christiane (Hg.): Face Work and Social Media. Münster: LIT, 376–401. URL: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:hil2-opus-2309.