Vol 6 (2024), No 1: 39–49
DOI: 10.21248/jfml.2024.65
Rezension
Pappert, Steffen/Roth, Kersten Sven (Hg.) (2023): Zeitlichkeit in der Textkommunikation. Tübingen: Narr Francke Attempto (Europäische Studien zur Textlinguistik, 24). 224 Seiten. 47,99 € ISBN 978-3-8233-8612-4
Spätestens seit Immanuel Kants (1998 [1787]: 96) Bestimmung von Raum und Zeit als „zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori“ ist ihre konstitutive, bei Kant vor der sinnlichen Erfahrung liegende, Erkenntnisrelevanz gesetzt. Seitdem werden Raum wie Zeit als grundlegende Ordnungskategorien menschlicher Wahrnehmung wie Erkenntnis wahrgenommen. Dergestalt verwundert es wenig, dass sich die verschiedenen Geistes- und Kulturwissenschaften der letzten Jahrzehnte umfassend sowohl Raum als auch Zeit analytisch zugewandt haben – wobei ein stärkerer Fokus auf dem Phänomen Raum zu liegen scheint; angefangen bei literaturwissenschaftlich-narratologischen Arbeiten (z. B. Nabokov 1982) bis hin zum spacial turn der Geistes- und Kulturwissenschaften ab den 1980er Jahren und damit auch der Linguistik (vgl. exemplarisch Dang-Anh (2019), Bendl (2021), Leonardi/Costa/Gensini/Schettino (2023), bei denen die (medial vermittelte Konstruiertheit der) Kategorie Raum eine zentrale Rolle spielt).
Zeit scheint aus text(sorten)linguistischer Perspektive vor allem bezogen auf den Aspekt der medialen (vor allem textuellen) ‚Zerdehnung‘ von Kommunikation (hinsichtlich der Unterschiedlichkeit von Produktions- und Rezeptionszeit) beachtet zu werden. Doch kann Zeit bzw. Zeitlichkeit vielgestaltig(er) linguistisch, im Fall des hier besprochenen Tagungsbandes „der Sektion Textlinguistik und Stilistik im Rahmen der Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL e.V.) 2022“ (8) textlinguistisch, zum Thema gemacht werden, worauf die beiden Herausgeber Steffen Pappert und Kersten Sven Roth in ihrer knappen (3 Seiten langen) Einleitung orientierend hinweisen. Auch sie betonen das Auseinanderklaffen zwischen Produktions- und Rezeptionszeitpunkt (vgl. 8), heben darüber hinaus aber auch Aspekte der zeitlichen „Flüchtigkeit von Texten“ (8) und zeitgebundene Funktionen von Texten (vgl. 8) hervor.
In den nachfolgenden acht Texten (von neun Autor*innen) wird das von den Herausgebern einleitend betonte Desiderat des textlinguistischen Einbeziehens von „Kategorien der Wahrnehmbarkeit“ (7), in diesem Fall der „Zeitgebundenheit“ (7), aufgearbeitet, wobei sich die Beiträge grob in zwei thematische Stränge einteilen lassen: Einerseits in Analysen, in denen die Zeitlichkeit von Texten als Textsorten verhandelt werden und andererseits in Untersuchungen, in denen aufgearbeitet wird, ob und inwiefern zeitliche Bezugnahmen (z. B. anhand von Temporaldeixis) in Texten als Textsorten zu finden sind und ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Bezugnahmen und den Spezifika der jeweiligen Texte als Textsorten gibt. Medientheoretisch bzw. -linguistisch erscheint der erste Punkt etwas innovativer, wird doch der zweite Punkt schon in anderen text(-sorten-)linguistischen Untersuchungen, z. B. vermittels der Analysekategorie der Situationalität bzw. des situativen Kontextes aufgegriffen (vgl. exemplarisch Markewitz 2019: 265–280 sowie theoretisch vermittelt Adamzik 2016: 256–257) und als konstitutiv für bestimmte Textsorten bzw. Textgattungen ausgewiesen (wie z. B. für das Tagebuch; vgl. exemplarisch Geck 2021: 74–76). Dies soll keinesfalls die durchgeführten Analysen an sich schmälern, die vielfach auf einem hohen Niveau interessante Ergebnisse liefern (und zudem durchweg gut zu lesen sind), sondern vor allem die thematische Zweiteilung und Relevanzsetzung des Bandes aufzeigen.
Im ersten Beitrag Können Texte altern? von Ulrich Schmitz (vgl. 11–38) geht es genau um diese Frage, ob und wie Zeit bzw. Zeitlichkeit Texte als Textsorten beeinflusst. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Material, auf dem Texte medial transportiert werden, ebenso altert, wie technische Grundlagen der Textproduktion (und -rezeption) sowie Layouts und Designs (vgl. 13), erarbeitet der Autor in seinem reich bebilderten Text (mit insg. 24 Abbildungen, zum Teil mit mehreren ‚Unterabbildungen‘) tentativ-assoziativ eine Skala des ‚Alterungspotentials‘ von Textsorten zwischen den Polen ‚Langlebigkeit‘ vs. ‚Kurzlebigkeit‘ (vgl. 15) und ordnet verschiedene Texte als Textsorten bzw. Textgattungen auf dieser Skala ein. Der „Durchgang“ (16) erscheint insgesamt nachvollziehbar und einleuchtend, zumal der Autor selbst auf die Vorläufigkeit seiner Zuordnungen sowie die Durchlässigkeit seiner Kategorien verweist (vgl. 15), an einigen Stellen wird aber automatisch ein weiterführendes Nachdenken und Reflektieren angestoßen. An einem Beispiel soll dies diskutiert werden: Schmitz ordnet „Philosophie“ (17, im Original hervorgehoben), gemeint sind damit philosophische Texte, neben Belletristik den eher zeitloseren Texten zu. Er tut dies unter zustimmender Bezugnahme auf ein Zitat von Rüdiger Zill (2020), der ausführt, dass es für Philosoph*innen gleichgültig ist, ob sie einen zeitgenössischen oder einen z. B. antiken philosophischen Text studieren. Nun erscheint es einerseits aber schon problematisch, von ‚den‘ philosophischen Texten auszugehen, da sich philosophische Überlegungen diachron in den unterschiedlichsten Textsorten bzw. -gattungen realisiert haben (vgl. dazu Werner Stegmaiers Formen philosophischer Schriften zur Einführung von 2021). Andererseits wird damit ein ganz spezifisches Philosophieverständnis von Schmitz unter Bezugnahme auf Zill vertreten. In der Tat gibt es philosophische Werke, die universelle Gültigkeit beanspruchen, man denke etwa an Kants Kritik der reinen Vernunft (1998 [1787]), Hegels Phänomenologie des Geistes (1986 [1807]) oder Heideggers Sein und Zeit (1963) (obwohl auch schon bei diesen kritische Einwände sicherlich denkbar wären). Was aber ist mit philosophischen Werken und Philosoph*innen, die explizit zeitgebunden sind, z. B. die Französische Moralistik des (vor allem) 17. und 18. Jahrhunderts, deren Vertreter*innen zeit- und gesellschaftsgebunden argumentieren und ihre z. B. Tugend- wie Wertedekonstruktion vor dem Hintergrund damals gültiger Werte und Normen vorgenommen haben? Dass die Ausführungen zu philosophischen Texten lediglich 1/3 einer Seite umfasst, verkompliziert diese Zusammenhänge noch zusätzlich und so scheint es, dass andere Zuordnungen und Einteilungen (sowie Ausdifferenzierungen) ebenso möglich wären. Dabei sind viele der Kategorisierungen absolut plausibel und es wird ein breites Tableau an Texten hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit entworfen. Abseits der ‚Lebenserwartung‘ von Texten (vgl. 15–31) wird danach gefragt, wie Texte altern, wobei Schmitz dahingehend zum Schluss kommt, „dass Texte nicht von sich aus alleine altern, sondern nur dadurch, dass ihr Bezug zur Lebenswelt der Leserinnen und Leser mit der Zeit vergeht“ (30) (man könnte auch sagen, sich wandelt). Wichtig ist zudem das Verhältnis von Text und Textsorte, aus dem heraus die ‚Langlebigkeit‘ der Texte abgeleitet werden kann, Texte altern nämlich „je nach Textsortenzugehörigkeit unterschiedlich schnell“ (31). Der Alterungsprozess von Texten kann diese entweder nutzloser, aber auch wertvoller werden lassen – dies diskutiert Schmitz anhand eigener Ansichtskarten seines Großvaters „an meinen damals 14jährigen Vater“ (34). Der Text endet mit der wohl themenbezogen passendsten Frage: „Wie lang wird dieser Aufsatz haltbar sein?“ (36).
Die Autor*innen Ina Pick und Claudio Scarvaglieri schließen mit ihrer Analyse zur Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten (vgl. 39–62) (erneut mit 10 Abbildungen reich bebildert) produktiv an den vorhergegangenen Beitrag an und fragen aus texttypologischer Perspektive, ob und wie sich Zeit bei sowie in Texten auswirkt, wobei sie Texte als Teile von Handlungsprozessen verstehen (vgl. z. B. 59), so dass „Texte Zeitlichkeit im Handeln gewinnen“ (40). Abseits eines kurzen Überblicks zu Arbeiten, „die sich mit dem Aspekt der Zeitlichkeit von Texten beschäftigt haben“ (41), präsentieren die Autor*innen vier Kategorien bzw. „Dimensionen von Zeitlichkeit beim Handeln mit Texten“ (43, im Original hervorgehoben) und diskutieren diese anhand verschiedener Beispiele:
a) Zeitlichkeit durch Veränderung des Handlungsprozesses z. B. bei ‚Frisch gestrichen‘-Hinweisschildern (vgl. 43–48),
b) Zeitlichkeit bei Konstanz des Handlungszusammenhangs anhand von z. B. Grabsteinen (vgl. 49–50),
c) Texte, die im zeitlichen Verlauf von Handlungsprozessen mehrfach relevant werden und sich verändern, anhand des exemplarischen Falls eines mehrwöchigen textkommunikativen Austauschprozesses zwischen Hausbewohner*innen und einer Schornsteinreinigungsfirma (vgl. 51–56) und schließlich
d) mehrere zeitlich aufeinanderfolgende Texte in einem Handlungsprozess, z. B. bei Einladungs- und Antworttextkommunikationsprozessen (vgl. 56–58).
Die Autor*innen schließen mit einem auch medienlinguistisch interessanten Ausblick, diskutieren sie doch u. a. die Frage an, „welche Einflüsse die Medialitäten jeweils auf die Handlungsprozesse haben“ (61). Insgesamt erweist sich der zweite Beitrag des Sammelbandes als sowohl die Zeitlichkeit von Texten als auch Zeitlichkeit in Texten diskutierend und dahingehend als Ergänzung zum Einstieg durch Ulrich Schmitz sowie zur Weiterführung und Ausdifferenzierung der thematisierten Zusammenhänge.
Niklas Simon führt mit seinen Überlegungen zu Zeitlichen Dimensionen der Textbedeutung – Ein Modell für die analytische Praxis der angewandten Linguistik (vgl. 63–85) den Aspekt der Zeitlichkeit in Texten weiter fort, was z. B. durch die Analyse temporaldeiktischer Ausdrücke (vgl. 79) erkennbar wird. Der Autor generiert im Rahmen seiner Ausführungen seinen Modellvorschlag (vgl. 63) aus dem von ihm beschriebenem textbedeutungskonstituierenden Zusammenspiel (vgl. 67) dreier Situationstypen:
a) Rezeptionssituation (vgl. 64),
b) Kontext(-modell) (vgl. 65) sowie
c) Textwelt (vgl. 66–67),
die sich interdependent aufeinander beziehen (vgl. 68–73). Anhand von zwei beispielhaften Analysen kommt es nach der Einführung zur Anwendung des Modells, einmal hinsichtlich eines Factsheets von Greenpeace (vgl. 75–77) und einmal anhand einer Infobroschüre einer Lobbyismusorganisation (vgl. 78–81). Dabei fokussiert er vornehmlich Zeitlichkeitshinweise (vgl. z. B. 75–77), z. B. „die zeitliche Strukturierung der Ereignisse, die als Elemente der Textwelt dargestellt werden“ (79). Analyse wie Modell sind grundsätzlich überzeugend, dennoch erscheint nicht ganz klar, wieso es eines neu einzuführenden Modells bedarf, um Analysen von temporaler Deixis, Textstrukturen sowie Themenentfaltung durchzuführen, was so schon in anderen Arbeiten (ohne entsprechende Modellbildung) geschehen ist. Auch das Kontextmodell zu einer Ebene im Modell selbst zu machen, kann zumindest konzeptionell irritierend wirken (vgl. 68).
Den Fokus auf Zeitlichkeit in Texten legt auch der nächste Text von Dorothee Jahaj, die sich mit wissenschaftlicher Politikberatung in der Corona-Pandemie als diskursiver Momentaufnahme befasst und dabei eine qualitativ-hermeneutische Textanalyse der Ad-hoc-Stellungnahmen der Leopoldina durchführt (vgl. 87–109). Vermittels u. a. einer „detaillierte[n] qualitative[n] Textanalyse mithilfe der Datenanalysesoftware MAXQDA“ (93) erfasst sie die „zeitliche Problematik der Ad-Hoc-Stellungnahmen der Leopoldina“ (91). Ihr so interessantes wie aktuelles Thema lotet die Autorin mit Blick auf die folgenden Analysegesichtspunkte aus: der strukturellen sowie formalen Varianz sowie dem Titel und Erscheinungsdatum der Stellungnahmen auf der textuellen Makroebene und der Entwicklung von Wissensbeständen, Legitimationsstrategien sowie der Nutzung wissenschaftlicher Begründungskraft und schließlich der Politisierung (anhand typischer Topoi) auf der textuellen Mikroebene. Auch sie erfasst Zeitlichkeit in Texten u.a. über „Temporal- und Modaladverbien“ (105). Dabei verfolgt die Analyse teilweise unterschiedliche Ziele: Einerseits geht es der Autorin um die Fragen des Sammelbandes hinsichtlich der Zeitlichkeit in der Textkommunikation. Andererseits versucht sie aber auch „Form[en] und Funktion[en] wissenschaftlicher Politikberatung“ (106) zu erfassen, was dazu führt, dass in bestimmten Analyseschritten der Aspekt der Zeitlichkeit nicht immer im Vordergrund steht.
Auch Monika Messner geht es in ihrem Beitrag Zwischen Alltagszeit und Urlaubszeit, zwischen Imagination und Zurückerinnern – Zeitlichkeit in der Destinationswerbung (111–144) um Zeit, Zeitlichkeit sowie Zeitdarstellungen bzw. -konstruktionen in Texten bzw. vornehmlich der Textsorte Destinationswerbung (vgl. 122). Aus medienlinguistischer Perspektive interessant sind ihre multimodalen Analysen von Bild-Text-Verhältnissen in dieser Textsorte (vgl. 139). Auch betont die Autorin, mit Rekurs auf Kant (vgl. 114), den ansonsten im Sammelband nicht immer berücksichtigen Aspekt der Interdependenz von Zeit und Raum (vgl. exemplarisch 119–121) im Rahmen ihres Themas: der touristischen Bewerbung (vgl. 112–113). Ihr Analysekorpus besteht aus mehr als 1.000 Anzeigen (vgl. 123), die sie anhand von Kriterien der expliziten (vgl. 126–134) sowie impliziten Verweise auf Zeitlichkeit (vgl. 134–139) untersucht, und z. B. die Verwendung von Verben als Möglichkeit, Zeit als diskursive Größe ins Spiel zu bringen (vgl. 134), herausarbeitet. Auch ihr Beitrag schließt mit einem Modell, in diesem Fall zur Erfassung von Zeitlichkeit in Destinationswerbung (vgl. 140–141). Aufbau und Struktur des Beitrages sind ebenso nachvollziehbar, wie die durchgeführte Analyse. Es verwundert lediglich, dass zwar Zeitlichkeit in den Werbetexten erfasst wird, aber kaum Reflexionen auf die Zeitlichkeit von Werbetexten selbst (durchaus im Sinne der skalaren Einordnung von Schmitz) anzutreffen sind: Werbetexte als zeitlich begrenzte Angebote auf ein bestimmtes Urlaubserlebnis sind schließlich immanent zeitgebunden (und entsprechend schnell laufen Angebote und damit die Werbetexte selbst ab). Dies hätte, vor dem Hintergrund der thematischen Fokusse des Bandes, sicherlich eine sinnvolle Ergänzung des Beitrags darstellen und die bessere Vernetzung zwischen den einzelnen Beiträgen unterstützen können.
Diana Walther rekurriert in ihrem Text Zur Bedeutung von Zeit(lichkeit) in Kalenderbüchern älterer Schreiber:innen (vgl. 145–176) ebenfalls auf eine immanent zeitgebundene Textsorte (bzw. spricht sie vom „Medium“; vgl. 173): nämlich auf tagebuchähnliche und damit raumzeitlich strukturierte Kalenderbücher. Dies betont die Autorin schon zu Beginn ihres Beitrages (vgl. 145–146) und stellt die Relevanz des soziologischen sowie gerontologischen Aspektes von Zeit im Alter heraus (vgl. 147–148). Sozio- und Textlinguistik integrierend (vgl. 153) analysiert sie anhand von zwei Kalenderbüchern älterer Schreiber*innen, die sie auf formaler, inhaltlicher, sprachlicher und prozessualer Ebene auswertet (vgl. 154), sowohl den Aspekt von Zeitlichkeit in Texten als auch den der Zeitlichkeit von Texten – wobei die Autorin die enge Beziehung aller Ebenen sowohl in ihrer Analyse als auch abschließend (vgl. 173) hervorhebt. Dergestalt ist das Medium Kalenderbuch einerseits als zeitgebundener Text „auf Dauerhaftigkeit angelegt“ (173). Andererseits vollziehen sich in ihm zeitbezogene Aspekte bzw. dient das Medium dazu, „gebundene Zeit und Alltagszeit zu planen und zu organisieren“ (173). Walter liefert mit ihrem Text einen, beide thematischen Stränge des Sammelbandes integrierenden, im hohen Maße nachvollziehbaren sowie interessanten Beitrag. Auch sie nutzt schließlich ihre Analyse zur Konstruktion eines Modells der Erfassung von Produktions- wie Rezeptionsprozessen von Kalenderbucheinträgen (vgl. 171) und ergänzt so die Modellierungsversuche von Simon und Messner.
Mark Döring schließt mit seiner multimodalen Analyse zu Zeitlichkeitshinweisen in Social-Media-Postings von Hochschulen (177–201) an das Vorangegangene konstruktiv an, fokussiert aber ebenfalls vornehmlich den Aspekt von Zeitlichkeit in Texten, wobei er Zeit bzw. Zeitlichkeit im Sinne von Hausendorf/Kesselheim/Kato/Breitholz (2017) als Lesbarkeitshinweise konzeptualisiert (vgl. 178). Zentral ist die damit einhergehende Konzeptualisierung von Zeitlichkeit als kommunikativem Problem, das auf der Textoberfläche sicht- und so lesbar gemacht wird (vgl. 184). Mit Rekurs auf vorangegangene Überlegungen u. a. von Beißwenger (2020), Burger (2000) und Adamzik (2016) erfasst er Zeitlichkeit als konstitutiven Faktor einerseits für Textkommunikation (vgl. 180–182) und andererseits für die sozialen Medien (vgl. 182–184). Anhand seines Dissertationskorpus „von Facebook- und Twitter-Postings zwölf deutscher Hochschulen“ (185) arbeitet der Autor Herausforderungen und Probleme von Zeitlichkeit in textuellen bzw. medialen Gattungen des Web 2.0 heraus. Dabei fokussiert er vornehmlich drei Aspekte bzw. Probleme der
a) Beitragsabfolge,
b) Beitragsgültigkeit und
c) Beitragseditierungsmöglichkeit (vgl. 185).
Als wesentliches Ergebnis der Analyse der Postings, die er, entsprechend bisheriger Forschungsliteratur, als Sehflächen konzeptualisiert (vgl. 186), hält Döring eine „Verschränkung von systemseitigen und nutzerseitigen Lesbarkeitshinweisen“ (198) fest. Auch wenn erneut eher der Aspekt der Zeit(lichkeit) in Texten im Vordergrund steht, so kann Döring doch mit seiner konstruktiven Analyse einer interessanten medialen Gattung positiv zur inhaltlichen Konturierung des Bandes beitragen.
Dieser endet mit einem Text von Florian Busch zum Präsentischen Erzählen im mediatisierten Alltag: Zeitlichkeit von Small Storys in mobiler Kommunikation (203–222). Der Autor reflektiert darin, „inwiefern mit der ständigen Einbindung in verschiedenste kommunikative Kontexte, die ein mobiles Medium wie das Smartphone herstellen kann, neue temporale Strukturen von Alltagserzählungen einhergehen“ (203). Dieser mediumbezogene Ansatz, inwiefern also Medien selbst Zeitlichkeit präfigurieren und wie sie sich in ihnen vollzieht, wird vom Autor vornehmlich anhand der Bezugnahme auf Forschungsliteratur sowie Hypothesen verfolgt. Zwar findet sich auch eine Analyse bzw. ein Fallbeispiel (vgl. 216–219), das aber eher knapp ausfällt und vornehmlich orientierende Funktion zu haben scheint. Mit starker medientheoretischer Fokussierung (vgl. 205–208) verfolgt der Autor seine durchaus anspruchsvollen sowie interessanten Überlegungen. Die ‚Veralltäglichung‘ von berichtenden Nachrichten im Rahmen von WhatsApp-Chats wird dabei zentral herausgearbeitet (vgl. 208–211). Die konkrete Fokussierung von Zeitlichkeit erscheint aber hinter den theoretischen wie analytischen Möglichkeiten zu bleiben, wenn erneut vor allem auf temporale Deixis Bezug genommen wird (vgl. 213) bzw. „Temporaladverbien und […] Auslassungspunkte“ (219). Dass „das präsentische Erzählen von erlebten Momenten mittels Smartphones eine gleichermaßen innovative wie zentrale Praxis mediatisierter Gesellschaften zu sein scheint“ (220), vermittelt sich auch eher aus den vorangegangenen Reflexionen als aufgrund der beispielhaften Probeanalyse.
Dass die materiell-mediale Gebundenheit von Texten als Textsorten so analyserelevant wie -konstitutiv ist, hat die Text(-sorten-)linguistik in den letzten Jahren bzw. eher Jahrzehnten umfassend fokussiert (vgl. bezogen auf die Themen des Bandes auch die Arbeiten von Domke, z. B. 2013, auf die die Herausgeber einleitend Bezug nehmen [vgl. 9]). Insbesondere die Analysekategorie der Materialität (vgl. so bei Sandig 2006: 425–481 als Ikonizitätsdimension zudem erfasst bei Löffler 2008: 258) ist hierbei hervorzuheben (auch wenn sie noch vielfach unter andere Kategorien, wie z. B. die des situativen Kontextes, subsumiert wird; vgl. Adamzik 2016: 151–172), vermittels derer die raumzeitliche Verortung bzw. Situierung konkreter Texte als Textsortenexemplare erfasst werden kann.
Raum und Zeit sind in zweierlei Hinsicht konstitutiv für Texte wie Textsorten und damit auch Textkommunikation (im Sinne der schon erwähnten Autor*innen Hausendorf/Kesselheim/Kato/Breitholz): Einmal sind Texte als Textsortenexemplare physische Objekte, die nicht nur räumlich, sondern ebenso zeitlich vorhanden sind und entsprechend altern können – sowohl hinsichtlich ihrer Materialität, ihres Layouts und Designs sowie ihrer Inhalte. Zugleich beziehen sich Textproduzent*innen in ihren Texten als Textsortenexemplaren im Rahmen von Textkommunikation auf Zeit bzw. Zeitlichkeit, verorten sich und ihre textuelle Kommunikation zu einem bestimmten Zeitpunkt bzw. auf einen solchen hin sowie z. T. auch auf eine bestimmte Zeitspanne oder Epoche. All diesen Zusammenhängen nehmen sich die Autor*innen des hier besprochenen Tagungsbandes konstruktiv an und reflektieren unterschiedliche Textsorten vor den beiden thematischen Hintergründen (mit einem etwas stärkeren Fokus auf Fragen, wie Zeit bzw. Zeitlichkeit in Texten zum Gegenstand gemacht wird). Dabei schließen sie einerseits an vorangegangene sowie erwartbare Analysekategorien, wie z. B. temporale Deixis, an, sie erweitern andererseits aber auch bisherige Forschungsperspektiven. Zudem wird auf der einen Seite auf eher klassische Textsorten, aber auf der anderen Seite ebenso auf z. B. mediale Gattungen des Web 2.0 Bezug genommen, sodass der Band insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer medial ausdifferenzierten Textkommunikationswelt überzeugt. Alle Analysen sind nachvollziehbar, transparent sowie interessant – sowohl hinsichtlich des Stils als auch des Inhalts.
Potentielle Leser*innen, die sich für die Diskussion, um die Weiterentwicklung der Textualitätskriterien interessieren (etwa im Sinne von z. B. Fix 2013: 121–123, auf die auch die Herausgeber einleitend Bezug nehmen [vgl. 7]) und den Aspekt bzw. Fokus auf Materialität sowohl erweitert als auch ausdifferenziert sehen möchten, seien explizit zur Lektüre aufgefordert.
Ebenso zur Rezeption ermutigt seien an Räumlichkeits- wie Zeitlichkeitsphänomenen Interessierte, die anhand dieses Bandes produktiv nachvollziehen können, wie relevant die Text(-sorten-)linguistik auch für diese Zusammenhänge sein kann.
Zuletzt bleibt nur noch eine Frage übrig: Wie lange wird diese Rezension haltbar sein?
Literatur
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Bendl, Christian (2021): Polyhistorizität im öffentlichen Raum. Zur Konzeptualität und Funktion semiotisch-diskursiver Raum-Zeit-Aneignungen am Wiener Heldenplatz. Berlin, Boston: De Gruyter.
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